Shakespeare

Shakespeare hat in England gewirkt, bevor der britische Volksgeist am intensivsten gewirkt hat auf das englische Volk. Wir wissen ja, daß das tiefste Verständnis Shakespeares herbeigeführt worden ist nicht in England, sondern in der mitteleuropäischen Geistesentwickelung. [1] Shakespeare verleugnet sich jedesmal selbst, wenn er Lear, Hamlet und so weiter schildert, und er ist nie versucht, zu sagen, was er für Vorstellungen hat, sondern er ist als Shakespeare vollständig ausgelöscht und lebt ganz auf in den verschiedenen Gestalten mit seiner Schaffenskraft, in den Persönlichkeiten. Stellt uns Dante in seinen Darstellungen die Erlebnisse einer Persönlichkeit dar, die Erlebnisse dieser einen Persönlichkeit bleiben müssen, so stellt Shakespeare die aus dem inneren menschlichen Ich hervorgehenden Impulse in den verschiedensten Gestaltungen dar. [2]

Die Dramen Shakespeares sind in erster Linie Charakterdramen. Nicht hauptsächlich in der Handlung, sondern in der großartigen Entwickelung der einzelnen Charaktere liegt das gewaltig Interessierende dieser Dichtungen. Gerade darin, daß der Dichter einen menschlichen Charakter vor uns hinstellt, ihn sich vor uns ausleben läßt, ihn schildert in all seinem Denken, seinem Empfinden, in dem Darstellen einer einzelnen Persönlichkeit. Der Umstand, daß Shakespeares Ruhm sich so bald verbreitete, beweist, daß er eine Zuhörerschaft fand, die ein großes Theaterinteresse besaß, also Sinn und Verständnis in reichem Maße mitbrachte für die Darstellung der Persönlichkeit, wie sie Shakespeare ihnen bot. Es ist Shakespeare eben auf diese Charakterdarstellung angekommen; ihm lag es fern, seinen Zuhörern eine ethische oder moralische Idee zu entwickeln. Die Idee einer tragischen Schuld beispielsweise, mit der Schiller glaubte seinen Helden belasten zu müssen, um seinen Untergang zu rechtfertigen, lag Shakespeare vollständig fern. Er läßt die Ereignisse sich entwickeln, so wie sich Naturvorgänge abspielen, folgerichtig eines aus dem anderen hervorgehend, doch nicht von dem Gedanken an Schuld und Sühne beeinflußt. Es würde schwer sein, einen Schuldbegriff in diesem Sinne bei einem der Shakespeare-Dramen nachzuweisen. Auch nicht um die Darstellung einer Idee war es Shakespeare zu tun, nicht die Eifersucht im «Othello», nicht den Ehrgeiz im «Macbeth», nein, den bestimmten Charakter des Othello, des Hamlet, des Macbeth wollte er darstellen. Dadurch gerade konnte er so große Charaktere schaffen, weil er seine Gestalten nicht mit einer Theorie beschwerte. Er kannte die Bühne von Grund aus, er wußte, wie ein Vorgang sich wirksam darstellte, und gerade er als Praktiker konnte den Vorgang so entwickeln, daß er die Hörer mit sich fortriß. – Es gibt keine Dramen in der ganzen Weltliteratur, die so sehr vom schauspielerischen Standpunkt aus gedacht sind. Das sichert dem Schauspieler Shakespeare den Ruhm, diese Dramen gedichtet zu haben. Schon der Umstand, daß er, zwar mit einer guten Bildung ausgerüstet, doch von dem eigentlichen Studium verschont geblieben war, sicherte ihm die Möglichkeit, den Dingen viel freier und unbefangener gegenüberzustehen, sie unbeschwert von dem Wust der Büchergelehrsamkeit zu sehen. Und gerade aus der Abenteurernatur des Dichters erklären sich einige der größten Vorzüge seiner Werke. Der kühne Flug der Phantasie, der jähe Wechsel der Begebenheiten, die Leidenschaft und Kühnheit, all das spricht für einen Menschen, der auch im Leben viel herumgeworfen worden war, der selbst ein bewegtes Leben geführt haben mußte. [3]

Es war nobler, in London in der Zeit, als Shakespeare seine Dramen aufführte, zu Hahnenkämpfen und ähnlichen Veranstaltungen zu gehen als in dieses Theater, wo man aß und trank. Dort, vor einem Publikum, das zu der untersten Klasse der Londoner Bevölkerung gehörte, wurden zuerst aufgeführt diese Stücke. [4]

Wenn man vergleicht dasjenige, was man drüben in der geistigen Welt hat, mit dem, was man aus Shakespeare hinübergenommen hat, dann findet man das Eigentümliche: Shakespeares Gestalten leben! Indem man sie hinüberträgt machen sie andere Handlungen; aber das Leben, das sie hier haben, das bringt man hinüber in die geistige Welt; während, wenn man selbst von manchem modernen idealistischen Dichter die Gestalten hinüberbringt in die geistige Welt, sie sich wie hölzerne Puppen ausnehmen; sie sterben ab, sie haben keine Beweglichkeit. [5] Sein Sturm ist eine der wunderbarsten Schöpfungen der ganzen Menschheit, eine der reichsten Entwickelungen der dramatischen Kunst. So kann Shakespeare eine reife Weltanschauung überall in das lebendige menschliche Schaffen hineinverlegen. [6] Man möchte sagen: Was in Shakespeares Dramen waltet, das ist ein Rückblick auf die alte Zeit, die seine Gegenwart herbeigeführt hat, aber so, daß diese Gegenwart akzeptiert wird; daß alles, was künstlerisch aus den alten Zeiten dargestellt wird, eine Art Begreiflichmachen der Gegenwart darstellt. Goethe, Schiller, und vorher schon Lessing, gehen alle auf Shakespeare zurück, aber auf den Shakespeare, der selber zurückgegangen ist zum Vergangenen. Sie möchten (aber), daß das Vergangene eine andere Fortsetzung finde als ihre Umgebung. Shakespeare ist gewissermaßen zufrieden mit seiner Umgebung; sie sind unzufrieden mit ihrer Umgebung. [7]

Für denjenigen, der das geistigte Leben zu studieren in der Lage ist, weist der Baconismus und der Shakespearismus auf dieselbe außerirdische, aber im Irdischen repräsentierte Quelle hin und man weiß, daß die Inspiration für Bacon und Shakespeare aus derselben Quelle kommt. [8]

Zitate:

[1]  GA 159, Seite 185   (Ausgabe 1980, 388 Seiten)
[2]  GA 59, Seite 292f   (Ausgabe 1984, 320 Seiten)
[3]  GA 51, Seite 68ff   (Ausgabe 1983, 360 Seiten)
[4]  GA 59, Seite 295   (Ausgabe 1984, 320 Seiten)
[5]  GA 304, Seite 206   (Ausgabe 1979, 228 Seiten)
[6]  GA 304, Seite 213   (Ausgabe 1979, 228 Seiten)
[7]  GA 210, Seite 207   (Ausgabe 1967, 245 Seiten)
[8]  GA 196, Seite 147   (Ausgabe 1966, 305 Seiten)

Quellen:

GA 51:  Über Philosophie, Geschichte und Literatur. Darstellungen an der «Arbeiterbildungsschule» und der «Freien Hochschule» in Berlin (1901/1905)
GA 59:  Metamorphosen des Seelenlebens – Pfade der Seelenerlebnisse. Zweiter Teil (1910)
GA 159:  Das Geheimnis des Todes. Wesen und Bedeutung Mitteleuropas und die europäischen Volksgeister (1915)
GA 196:  Geistige und soziale Wandlungen in der Menschheitsentwickelung (1920)
GA 210:  Alte und neue Einweihungsmethoden. Drama und Dichtung im Bewußtseins-Umschwung der Neuzeit (1922)
GA 304:  Erziehungs- und Unterrichtsmethoden auf anthroposophischer Grundlage (1921/1922)