Selbstlosigkeit

Den Christus erkennen, heißt die Schule der Selbstlosigkeit durchmachen. Unter dem Einflusse des Materialismus ging die Selbstlosigkeit der Menschheit in einer Weise verloren, wie es in zukünftigen Zeiten der Menschheit erst erkannt werden wird. Aber durch die Vertiefung in das Mysterium von Golgatha, die Durchdringung der Erkenntnis des Mysteriums von Golgatha mit unserem ganzen Gefühl, unserem ganzen seelischen Wesen, können wir uns wiederum eine Kultur der Selbstlosigkeit aneignen. In bezug auf unser sittliches Leben, unser Weltverständnis und in bezug auf dasjenige, was innerhalb unserer Bewußtseinsseele sich abspielt, müssen wir erst selbstlos werden. Das ist eine Aufgabe der Kultur gegen die Zukunft hin. In einer gewissen Beziehung aber gibt es in uns schon wesenhaft Selbstloses. Und es wäre das größte Unglück des Erdenmenschen, wenn er mit Bezug auf gewisse Teile seines Wesens so selbstsüchtig sein müßte, wie er es in vieler Beziehung heute noch sein muß in bezug auf sein moralisches, intellektuelles und gefühlsmäßiges Leben. Wenn die Selbstsucht zum Beispiel in demselben Grade unsere Sinne ergreifen würde oder ergreifen könnte, wie sie unsere Moral ergreift, so wäre dies das größte Unglück für den Erdenmenschen. Denn unsere Sinne wirken an unserem Leibe so, daß in dieser Sinneswirkung sich Selbstlosigkeit ausspricht. (Beispielsweise) sehen wir durch die Augen nur dadurch, daß tatsächlich die Augen selbstlos sind, daß wir sie gar nicht spüren. Wir tragen sie in uns, wir sehen gleichsam durch die Augen hindurch die Dinge, aber die Augen selbst sind ausgelöscht als solche in unserem Wahrnehmen. So ist es auch mit den anderen Sinnen. Wir nehmen die Welt dadurch wahr, daß unser Sinnensystem selbstlos ist. Nehmen wir einmal an, unsere Augen wären selbstsüchtig. Wir würden uns zum Beispiel einer blauen Farbe nähern, und indem wir uns ihr nähern, würde unser Auge, weil das Auge so wirken würde, daß es nicht die Farbe durchlassen, sondern sie unmittelbar im Auge selbst erschöpfen würde, von dem Blau, indem es sich ihm näherte, ausgesogen werden. Wie eine Saugkraft würde man es im Auge empfinden, wenn das Auge so selbstsüchtig werden könnte, wie wir in unserem moralischen, intellektuellen und Gefühlsleben sind. Wenn wir uns einer roten Farbe nähern und unser Auge sich nicht selbstlos verhalten würde, sondern Anspruch darauf machen würde, die Wirkung des Rot in sich zu erleben, so würde das Rot wie stechend auf unser Auge wirken. Und wenn unser Auge selbstsüchtig würde, so wäre es so, daß wir gegenüber allen Eindrücken einen Saug- oder Stechschmerz hätten. Wir wären uns bewußt, daß wir Augen haben, aber wir würden bloß Saug- oder Stechschmerzen wahrnehmen. In Wirklichkeit ist es für den heutigen Menschen so, daß er durch die Welt geht und weiß, daß Farben- und Lichtwirkungen da sind. Aber er braucht nicht an das Auge zu denken. Es löscht sich selbstlos aus während des Wahrnehmens. Und ebenso ist es mit den anderen Sinnen. In unseren Sinnen waltet Selbstlosigkeit. Aber zu dieser Selbstlosigkeit wären die Sinne nicht gekommen, schon in der lemurischen Zeit wäre ihnen die Selbstlosigkeit genommen worden, wenn Luzifer frei für sich hätte wirken können in dieser alten lemurischen Zeit. Das, was wir als Sinnenmenschen sind, was möglich macht, daß wir nicht Schmerz durch unsere Sinne, sondern die herrliche Natur um uns herum empfinden, das rührt von dem ersten Christus-Opfer her (siehe: 1. Christusereignis). [1] Indem wir das alles aufnehmen können, was Herrliches die Natur um uns ausbreitet, müssen wir uns bewußt sein: Nicht wir, der Christus in unseren Sinnen ist es, der uns geeignet macht, also die herrliche Natur zu empfinden.

Und es war in den ersten Zeiten der atlantischen Entwickelung, da wollte sich – jetzt durch Luzifer und Ahriman bewirkt – die Selbstsucht eines anderen Systems der menschlichen Organisation bemächtigen, nämlich der Lebensorgane. Wenn organische Erkrankungen der Lebensorgane auftreten, da beginnt der Mensch zu erleben die Selbstsucht seiner Lunge, seines Herzens, Magens und anderer Organe. Da beginnen die Zeiten, wo der Mensch, erst indem er den Schmerz fühlt, weiß, er hat einen Magen, ein Herz. [2] Wenn das in Erfüllung gegangen wäre, was Ahriman und Luzifer gewollt haben, wenn der Mensch nur so auf sich angewiesen wäre, so würde er gejagt werden durch die Welt zwischen tierischster Begierde nach dem, was dem einen oder andern Organ zuträglich ist, und furchtbarem Ekel vor dem, was dem einen oder andern Organ schädlich ist. Daß das nicht so kam, daß unsere Lebensorgane abgedämpft worden sind, daß sie harmonisiert worden sind, ist die Folge davon, daß sich in der Zeit, in der der Mensch die erste atlantische Entwickelung durchmachte, in überirdischen Sphären die zweite Vorstufe des Mysteriums von Golgatha ereignete (siehe: 2. Christusereignis). Es wird sich die Menschheit erfüllen mit jenem wahren Frommsein, durch das sie sagen wird: Ich empfinde es, daß ich ein physischer Mensch mit der Selbstlosigkeit der Organe nur sein kann dadurch, daß nicht ich allein in der Welt mich entwickelt habe, sondern der Christus in mir, der mir meine Organe so gestaltet hat, daß ich Mensch sein kann! So lernen wir immer mehr und mehr, daß wir im Grunde genommen alles dasjenige, was uns zum Menschen macht, im allerumfassendsten Sinne so auffassen müssen, daß wir sagen: Nicht ich, der Christus in mir. – Der Christus hat gesorgt für die ganze Menschheits-entwickelung in den drei Vorstufen des Mysteriums von Golgatha, die er verrichtet hat vor dem eigentlichen Mysterium von Golgatha. Es war in den letzten Zeiten der atlantischen Entwickelung, da stand die Menschheit vor der dritten Gefahr. Da sollte in Unordnung kommen Denken, Fühlen und Wollen. Was wäre aus dem Menschen geworden, wenn dieses dritte Christusereignis nicht eingetreten wäre? Furienhaft würde er erfaßt worden sein von seinen wilden Begierden, von seinem Willensleben. Rasend hätte er werden können, trotzdem auf der andern Seite wiederum sein Verstand selbstsüchtig höhnisch gedacht hätte über dasjenige, was rasend der Wille vollbringt. Das ist abgewendet worden durch das 3. Christusereignis. Die Menschheit hat sich eine Erinnerung behalten daran, wie die menschliche Leidenschaft und das menschliche Denken harmonisiert worden sind durch die Kräfte, die damals herunterwirkten aus den überirdischen Welten. [3] (Siehe auch: Michael und der Drache – Sankt Georg).

Zitate:

[1]  GA 152, Seite 151uf   (Ausgabe 1980, 176 Seiten)
[2]  GA 152, Seite 155   (Ausgabe 1980, 176 Seiten)
[3]  GA 152, Seite 157ff   (Ausgabe 1980, 176 Seiten)

Quellen:

GA 152:  Vorstufen zum Mysterium von Golgatha (1913/1914)