Seelenübungen der Geisteswissenschaft

Was hier charakterisiert wird, soll gelten als Seelenerlebnisse, die erfahren werden können, wenn gewisse Bedingungen in der menschlichen Seele hergestellt werden. Als Seelenübung kann bezeichnet werden, was vorzunehmen ist. Der Anfang wird damit gemacht, daß Seeleninhalte, die für gewöhnlich nur in ihrem Wert als Abbilder eines äußeren Wirklichen nach bewertet werden, von einem anderen Gesichtspunkte aus genommen werden. In den Begriffen und Ideen, die sich der Mensch macht, will er zunächst etwas haben, was Abbild oder wenigstens Zeichen eines außerhalb der Begriffe oder Ideen Liegenden sein kann. Der Geistesforscher in dem hier gemeinten Sinne sucht nach Seeleninhalten, die ähnlich sind den Begriffen und Ideen des gewöhnlichen Lebens oder der wissenschaftlichen Forschung; allein er betrachtet diese zunächst nicht in bezug auf ihren Erkenntniswert für ein Objektives, sondern er läßt sie in der eigenen Seele als wirksame Kräfte leben. Er senkt sie gewissermaßen als geistige Keime in den Mutterboden des seelischen Lebens und wartet in einer vollkommenen Seelenruhe ihre Wirkung auf das Seelenleben ab. Er kann dann beobachten, wie bei wiederholter Anwendung einer solchen Übung in der Tat die Verfassung der Seele sich ändert. Es muß aber ausdrücklich betont werden, daß die Wiederholung dasjenige ist, worauf es ankommt. Denn es handelt sich nicht darum, daß durch den Inhalt von Begriffen im gewöhnlichen Sinne nach Art eines Erkenntnisprozesses sich etwas in der Seele abspielt, sondern es handelt sich um einen realen Prozeß im Seelenleben. In diesem Prozeß wirken Begriffe nicht als Erkenntniselemente, sondern als reale Kräfte; und ihre Wirkung beruht auf dem oft wiederholten Ergriffenwerden des Seelenlebens von denselben Kräften. Daher wird am meisten erzielt durch über längere Zeiträume sich erstreckende Meditationen über denselben Inhalt, die in bestimmten Zeiträumen wiederholt werden. Die Länge einer solchen Meditation kommt dabei wenig in Betracht. Sie kann sehr kurz sein, wenn sie nur bei absoluter Seelenruhe und bei vollkommener Abgeschlossenheit der Seele von allen äußeren Wahrnehmungseindrücken und von aller gewöhnlichen Verstandestätigkeit verläuft. Auf Isolation des Seelenlebens mit dem angedeuteten Inhalte kommt es an. Alle Seeleninhalte, welche im ausgesprochenen Maße auf ein außer ihnen liegendes Objektives sich beziehen, sind für die charakterisierten Übungen von geringer Wirkung. Es kommen vielmehr besonders solche Vorstellungen in Betracht, welche man als Sinnbilder, Symbole bezeichnen kann. Am fruchtbarsten sind diejenigen, welche sich in lebendiger Art zusammenfassend auf einen mannigfaltigen Inhalt beziehen. Man nehme als ein erfahrungsgemäß gutes Beispiel das, was Goethe als seine Idee von der «Urpflanze» bezeichnet hat. Er hat gesagt, daß derjenige, welcher dieses Bild in seiner Seele lebendig macht, an ihm etwas habe, aus dem durch gesetzmäßige Modifikationen alle möglichen Formen ersonnen werden können, welche die Möglichkeit des Daseins in sich tragen. [1] Man mag zunächst über den objektiven Erkenntniswert einer solchen «symbolischen Urpflanze» denken, wie immer: wenn man sie in dem angedeuteten Sinne in der Seele leben läßt, wenn man ihre Wirkung auf das Seelenleben in Ruhe abwartet, dann tritt etwas von dem ein, was man veränderte Seelenverfassung nennen kann. Der Geistesforscher legt eben nicht Wert darauf, was die zur Seelenübung verwendeten Bilder bedeuten, sondern was unter ihrem Einflusse in der Seele erlebt wird. Hier können naturgemäß nur einzelne Beispiele wirksamer symbolischer Vorstellungen gegeben werden. Man denke sich die menschliche Wesenheit im Vorstellungsbilde so, daß die mit der tierischen Organisation verwandte niedrige Natur des Menschen im Verhältnis zu ihm als Geisteswesen durch sinnbildliches Zusammensein einer Tiergestalt mit daraufgesetzter höchstidealisierter Menschenform – etwa wie ein Kentaur – erscheint. Je bildhaft-lebensvoller, inhaltsgesättigter das Symbol erscheint, um so besser ist es. Dieses Symbol wirkt unter den angeführten Bedingungen so auf die Seele, daß diese nach Verlauf einer – allerdings längeren – Zeit die inneren Lebensvorgänge in sich gestärkt, beweglich, sich gegenseitig erhellend empfindet. Ein altes gut brauchbares Symbol ist der sogenannte «Merkurstab» (siehe: Caduceus), das heißt, die Vorstellung einer Geraden, um welche spiralig eine Kurve läuft. Man muß dann allerdings ein solches Gebilde als ein Kräftesystem sich verbildlichen, etwa so, daß längs der Geraden ein Kräftesystem läuft, dem gesetzmäßig ein anderes von entsprechend geringerer Geschwindigkeit in der Spirale entspricht. Besonders bedeutungsvoll können mathematische Gebilde werden, insofern in ihnen Sinnbilder von Weltvorgängen gesehen werden. [2]

Zu diesen Übungen kommen dann andere. Sie bestehen auch in Symbolen, jedoch solchen, welche in Worten ausdrückbaren Vorstellungen entsprechen. Man denke sich die Weisheit, welche in der Ordnung der Welterscheinungen lebend und webend vorgestellt wird, durch das Licht symbolisiert. Weisheit, die in opfervoller Liebe sich darlebt, denke man von Wärme versinnlicht, die in Gegenwart des Lichtes entsteht. Aus solchen Vorstellungen denke man sich Sätze geprägt, die also nur sinnbildlichen Charakter haben. Solchen Sätzen kann sich das Seelenleben in Meditation hingeben. Der Erfolg hängt im wesentlichen von dem Grade ab, welchen der Mensch in bezug auf Seelenruhe und Isolierung des Seelenlebens innerhalb der Symbole erreicht. Tritt der Erfolg ein, so besteht er darin, daß sich die Seele wie herausgehoben fühlt aus der körperlichen Organisation. Es tritt für sie etwas ein wie eine Änderung ihrer Seinsempfindung. Läßt man gelten, daß der Mensch sich im normalen Leben so fühlt, daß sein bewußtes Leben sich wie von einer Einheit ausgehend spezifiziert nach den Vorstellungen, die von den Wahrnehmungen der einzelnen Sinne herrühren, so fühlt sich die Seele infolge der Übungen durchsetzt von einem Erleben ihrer selbst, dessen Teile weniger schroffe Übergänge zeigen, wie zum Beispiel Farben- und Tonvorstellungen innerhalb des gewöhnlichen Bewußtseinshorizontes. Die Seele hat das Erlebnis, daß sie sich in ein Gebiet inneren Seins zurückziehen kann, das sie dem Erfolge der Übungen verdankt und das ein Leeres, ein Unwahrnehmbares war vor der Vornahme der Übungen. Bevor ein solches inneres Erlebnis erreicht wird, finden mannigfaltige Übergänge in der Seelenverfassung statt. Einer derselben gibt sich kund in einem aufmerksamen – durch Übung zu erlangenden – Verfolgen des Augenblickes, in dem der Mensch aus dem Schlafe erwacht. Er kann da deutlich fühlen, wie von einem ihm vorher unbekannten Etwas Kräfte gesetzmäßig in das Gefüge der Körperorganisation eingreifen. Er fühlt, wie in einer Erinnerungsvorstellung, einen Nachklang von Wirkungen, die von diesem Etwas während des Schlafes auf die körperliche Organisation ausgegangen sind. Und hat der Mensch sich dann noch dazu die Fähigkeit angeeignet, das charakterisierte Etwas innerhalb seiner Körperorganisation zu erleben, so wird ihm der Unterschied klar in dem Verhältnis dieses Etwas zu dem Körper während des Wachens und des Schlafens. Er kann dann gar nicht anders, als sagen, daß dieses Etwas während des Wachens in dem Körper, während des Schlafens aber außerhalb des Körpers ist. Man muß nur mit diesem «innerhalb» und «außerhalb» nicht gewöhnliche räumliche Vorstellungen verbinden, sondern durch sie bezeichnen die spezifischen Erlebnisse, welche eine durch die charakterisierten Übungen gegangene Seele hat. [3]

Die Übungen sind intimer seelischer Art. Sie gestalten sich für jeden Menschen in individueller Form. Ist einmal der Anfang mit ihnen gemacht, so ergibt sich das Individuelle aus einer gewissen, aus dem Verlaufe zu machenden Seelenpraxis. Was sich aber mit zwingender Notwendigkeit herausstellt, ist das positive Bewußtsein von einem Leben in einer Realität, die gegenüber der äußeren Körperorganisation selbständig und von übersinnlicher Art ist. Ein Mensch, der die charakterisierten Seelenerlebnisse sucht, sei ein Geistesforscher genannt. Für ihn liegt das bestimmte, genauer Selbstkontrolle unterstellte Bewußtsein vor, daß der sinnlich wahrnehmbaren Körperorganisation eine übersinnliche zu Grunde liegt, und daß es möglich ist, sich selbst innerhalb derselben so zu erleben, wie das normale Bewußtsein sich erlebt innerhalb der physischen Körperorganisation. Durch entsprechendes Fortsetzen der Übungen geht das charakterisierte Etwas in einen gewissermaßen geistig organisierten Zustand über. Das Bewußtsein wird sich klar darüber, daß es in ähnlicher Art in Beziehungen steht zu einer übersinnlichen Welt, wie es durch die Sinne in Erkenntnis-Beziehungen steht zur Sinneswelt. Dann, wenn die Übungen in der rechten Art, vor allem mit nie erlahmender Selbstkontrolle gemacht werden, in der unmittelbaren Erfahrung sich der Unterschied des vorgestellten Übersinnlichen von dem wahrgenommenen mit der gleichen Sicherheit für den Geistesforscher ergibt, wie sich in bezug auf die Sinneswelt der Unterschied ergibt zwischen einem vorgestellten Stücke heißen Eisens und einem wirklich berührten. Gerade im Hinblick auf den Unterschied zwischen Halluzination, Illusion und übersinnlicher Wirklichkeit eignet sich der Geistesforscher durch seine Übungen eine immer untrüglicher werdende Praxis an. Naturgemäß ist aber auch, daß der besonnene Geistesforscher im eminentesten Sinne kritisch sein muß gegenüber den einzelnen von ihm gemachten übersinnlichen Beobachtungen. Und er wird eigentlich niemals in bezug auf positive Ergebnisse der übersinnlichen Forschung anders sprechen als mit dem Vorbehalt: dies oder jenes ist beobachtet worden; und die dabei geübte kritische Vorsicht berechtigt zu der Annahme, daß jeder, welcher sich durch entsprechende Übungen in Verhältnis bringen kann zu der übersinnlichen Welt, dieselben Beobachtungen machen wird. Differenzen in den Angaben der einzelnen Geistesforscher können eigentlich nicht in einem anderen Licht gesehen werden, als die voneinander differierenden Angaben verschiedener Reisender, welche dieselbe Gegend besucht haben und beschreiben. [4]

Zitate:

[1]  GA 35, Seite 114ff   (Ausgabe 1965, 484 Seiten)
[2]  GA 35, Seite 116ff   (Ausgabe 1965, 484 Seiten)
[3]  GA 35, Seite 118ff   (Ausgabe 1965, 484 Seiten)
[4]  GA 35, Seite 120ff   (Ausgabe 1965, 484 Seiten)

Quellen:

GA 35:  Philosophie und Anthroposophie (1904-1923)