Schulung esoterische
► Enthaltung von der Kritik

Die Menschenliebe muß sich allmählich erweitern zur Liebe zu allen Wesen, ja zu allem Dasein. Wer die genannten Bedingungen nicht erfüllt, wird auch nicht die volle Liebe zu allem Aufbauen, zu allem Schaffen haben, und die Neigung, alle Zerstörung, alles Vernichten als solche zu unterlassen. Der Geheimschüler muß so werden, daß er nie etwas vernichtet um des Vernichtens willen, nicht in Handlungen, aber auch nicht in Worten, Gefühlen und Gedanken. Für ihn soll es Freude am Entstehen, am Werden geben; und nur dann darf er die Hand bieten zu einer Vernichtung, wenn er auch imstande ist, aus und durch die Vernichtung neues Leben zu fördern. Damit ist nicht gemeint, daß der Geheimschüler zusehen darf, wie das Schlechte überwuchert; aber er soll sogar am Schlechten diejenigen Seiten suchen, durch die er es in ein Gutes wandeln kann. [1] Du sollst dich der Kritik enthalten, heißt: soviel du im Leben in Fällen, in welchen dich die Verhältnisse zu einem Tadel, einer Verurteilung reizen, diesem Reiz nicht folgst, sondern ohne alle Kritik an der Verbesserung des Schädlichen, Schlechten und so weiter arbeitest, in demselben Maße steigst du aufwärts. Es schließt die Enthaltung von der Kritik durchaus nicht ein, daß du gleichgültig an dem Schlechten, Bösen und so weiter vorbeigehst, und daß du alles läßt, wie es ist. Man soll nur suchen, das Schlechte in demselben Maße aus seinen Ursachen zu verstehen, wie man das Gute versteht. Ist man aber genötigt, Schmerz zu bereiten, hat man etwa gar die Verpflichtung als Richter oder als Kritiker, dann gilt das Gesetz nicht minder. Auch der Schmerz, zu dem man verpflichtet ist, hemmt die Entwickelung. Man muß die Sache dann als sein Karma ansehen. Denn wollte man sich der Verpflichtung entziehen, um die eigene Entwickelung zu fördern, so würde man aus Selbstsucht handeln, und dadurch hielte man die Entwickelung in den meisten Fälle mehr auf, als daß man sie durch das Entziehen von der Schmerzbereitung fördert. Ist man Erzieher, und dadurch genötigt, vielleicht fortwährend durch Strafen Schmerz zu bereiten, so kann man während dieser Zeit in bezug auf obige Regel gar nichts tun. Hat man dann aber den Zögling gebessert, so kommt diese gute Wirkung unserem Karma und dadurch doch unserer Höherentwickelung mittelbar zustatten. Die Gesetze des geistigen Lebens sind unerbittlich, wenn man sie aus welchen Gründen immer nicht einhält. Und sie müssen in aller Strenge einfach als Geistgesetze aufgestellt werden, ob eine Möglichkeit, sie einzuhalten, vorliegt oder nicht. [2]

Wenn wir alles dasjenige von unserer Seele wegweisen, was in gewisser Beziehung einen Gegensatz zwischen uns und der übrigen Welt aufrichtet, zwischen uns und unserer Umgebung. Allerdings sollte es gehören zu der Selbstverpflichtung, die sich der Anthroposoph auferlegt, nicht etwa berechtigte Kritik sich zu verbieten. Wenn die Kritik eine sachliche ist, so wäre es natürlich eine Schwäche, das Schlechte für gut – sozusagen aus rein geisteswissen-schaftlichen Gründen – auszugeben. Das braucht man aber auch gar nicht. Aber man muß unterscheiden lernen zwischen dem, was man um seiner selbst willen tadelt, und dem, was man wegen seines Einflusses auf die eigene Persönlichkeit unbequem, benörgelbar findet. Und je mehr man sich angewöhnen kann, unabhängig zu machen die Beurteilung namentlich unserer Mitmenschen von der Art und Weise, wie sie sich zu uns stellen, je mehr man das kann, desto besser ist es für die Stärkung unseres Ich in bezug auf seine Herrschaft über den astralischen Leib. Es ist sogar gut, sich sozusagen eine Entsagung aufzuerlegen. Nicht um sich die Finger abzulecken und zu sagen: Du bist ein guter Mensch, wenn du deinen Mitmenschen nicht kritisierst –, sondern um sich stark zu machen, soll man sich auferlegen die Dinge, die man nur deshalb übel finden kann, weil sie einem selber unangenehm sind, nicht übel zu finden und gerade auf dem Gebiet, wo es sich um Menschenbeurteilung handelt, negative Urteile lieber da anzuwenden, wo man selber gar nicht in Frage kommt. Man wird schon sehen, daß das als theoretischer Grundsatz sich leicht ausnimmt, daß es aber im Leben außerordentlich schwierig auszuführen ist. Es ist gut, wenn man zum Beispiel bei einem Menschen, der einen angelogen hat, mit seiner Antipathie gegen ihn, weil er einen gerade selber angelogen hat, zurückhält. Es handelt sich nicht darum, zu anderen zu gehen und das weiterzuerzählen, was er erzählt hat, sondern es kann sich darum handeln, das Gefühl der Antipathie zurückzuhalten, weil er uns angelogen hat. Das, was wir an dem Menschen bemerken können an dem einen und anderen Tag, wie seine eigenen Handlungen zusammenstimmen, das können wir sehr wohl zu einem Urteil über den Betreffenden gebrauchen. Wenn einer einmal so, das andere Mal anders redet, dann brauchen wir nur, was an ihm selber ist, zu vergleichen, dann haben wir eine ganz andere Unterlage zu seiner Beurteilung, als wenn wir sein Verhalten zu uns betonen. Und das ist wichtig, daß man die Dinge als solche für sich selbst sprechen läßt, oder die Menschen als solche in ihren eigenen Handlungen begreift, nicht aus einzelnen Handlungen sie beurteilt, sondern aus dem, wie ihre Handlungen zusammenstimmen. Man wird schon finden, daß selbst bei demjenigen, den man für einen ausgepichten Schurken hält und sagt: Der tut niemals etwas anderes, als was zum Begriff eines solchen stimmt –, daß man selbst bei einem solchen sehr viel findet, was nicht zu dem stimmt, was dem widerspricht, dem, was er selbst tut. Und man braucht gar nicht das Verhältnis zu einem selbst ins Auge zu fassen, man kann von sich selbst absehen, um sich den Menschen in seinem eigenen Verhalten vor die Seele zu stellen, wenn es überhaupt nötig ist, ein Urteil über ihn zu fällen. Aber gut ist es zur Stärkung des Ich, darüber nachzudenken, daß wir einen großen Teil, neun Zehntel der Urteile, die wir fällen, in allen Fällen unterlassen können. Wenn man ein Zehntel von den Urteilen, die man über die Welt fällt, ein Zehntel nur sozusagen wirklich in seiner Seele erlebt, so genügt das reichlich für das Leben. Es wird das Leben in keiner Weise, auch für uns selber nicht, beeinträchtigt dadurch, daß wir uns versagen, die übrigen neun Zehntel zu fällen, die wir eben nun sehr häufig fällen. [3]

Eine Seele, die ohne Interesse geblieben ist für das allgemein Menschliche und die dennoch eine esoterische Entwickelung durchmachen würde, würde sich selber immer mehr und mehr wie eine Last empfinden. Daher ist es so gut, wenn man seine menschlichen Interessen erweitert während seiner okkulten Entwickelung, und nichts ist eigentlich schlimmer, als wenn man nicht versucht, Verständnis sich anzueignen im Fortschritt der esoterischen Entwickelung für jede Art von Menschenfühlen und Menschenempfinden und Menschenleben. Das bedingt natürlich nicht den Grundsatz – das muß immer wieder betont werden –, daß man über alles Unrecht, das etwa in der Welt geschieht, kritiklos hinweggehen müsse; denn das wäre ein Unrecht gegenüber der Welt. Aber etwas anderes bedingt es: Während man vor seiner esoterischen Entwickelung eine gewisse Freude haben kann am Tadel irgendeines Menschenfehlers, hört dieses Freudehaben am Tadeln eines Menschen im Laufe der esoterischen Entwickelung eigentlich ganz auf. Es kann ganz berechtigt bleiben, scharf zu sein gegen die Fehler, die in der Welt geschehen; aber wer eine esoterische Entwickelung durchmacht, bei dem ist es so, daß ihn jeder Tadel, den er aussprechen oder in Wirkung umsetzen muß, schmerzt und immer mehr und mehr Schmerz bereitet. Und das Leid über das Tadelnmüssen, das ist etwas, was auch wie ein Barometer der esoterischen Entwickelung auftreten kann. Je mehr man noch Freude empfinden kann, wenn man tadeln muß oder wenn man lächerlich finden muß die Welt, desto weniger ist man wirklich reif, fortzuschreiten. Und man muß schon allmählich eine Art von Gefühl dafür bekommen, daß sich in einem immer mehr ein Leben entwickelt, welches einen diese Torheiten und Fehler der Welt anschauen läßt mit einem spottenden und mit einem von Tränen erfüllten Auge. Dieses innerliche Gegliedertwerden, dieses Selbständigerwerden sozusagen von dem, was früher vermischt war, das gehört nun auch zu den Veränderungen, die der Ätherleib des Menschen erlebt. [4]

Das ist ein großes und gewaltiges Erlebnis, wenn der Moment eintritt, wo unser Empfindungs- und Gefühlsleben gewissermaßen unpersönlich wird. [5] Was wir tun oder getan haben, gehört der objektiven Welt an, ist ins Werk gesetztes Karma; was wir als Persönlichkeit sind, ist in fortwährendem Werden. Und das Urteil, das wir fällen über irgend etwas, was ein Mensch getan hat, muß im Grunde genommen auf einem ganz anderen Blatt stehen, als das Urteil, das wir fällen über den Wert oder Unwert einer menschlichen Persönlichkeit. Wir müssen, wenn wir uns den höheren Welten nähern wollen, lernen, der menschlichen Persönlichkeit so objektiv gegenüberstehen zu können, wie wir einer Pflanze oder einem Stein objektiv gegenüberstehen. Wir müssen lernen, Anteil haben zu können auch an der Persönlichkeit derjenigen Menschen, die Taten verrichtet haben, die wir vielleicht im eminentesten Sinne verurteilen müssen. Gerade diese Trennung des Menschen von seinen Taten, die Trennung des Menschen auch von seinem Karma, die muß man vollziehen können, wenn man imstande sein will, ein richtiges Verhältnis zu den höheren Welten zu gewinnen. [6]

Zitate:

[1]  GA 10, Seite 111   (Ausgabe 1961, 232 Seiten)
[2]  GA 34, Seite 389f   (Ausgabe 1960, 627 Seiten)
[3]  GA 143, Seite 26f   (Ausgabe 1970, 248 Seiten)
[4]  GA 145, Seite 96ff   (Ausgabe 1976, 188 Seiten)
[5]  GA 60, Seite 209   (Ausgabe 1983, 496 Seiten)
[6]  GA 164, Seite 73   (Ausgabe 1984, 286 Seiten)

Quellen:

GA 10:  Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten? (1904/1905)
GA 34:  Lucifer – Gnosis. Grundlegende Aufsätze zur Anthroposophie und Berichte aus den Zeitschriften «Luzifer» und «Lucifer – Gnosis» 1903 – 1908 (1903-1908)
GA 60:  Antworten der Geisteswissenschaft auf die großen Fragen des Daseins (1910/1911)
GA 143:  Erfahrungen des Übersinnlichen. Die drei Wege der Seele zu Christus. (1912)
GA 145:  Welche Bedeutung hat die okkulte Entwicklung des Menschen für seine Hüllen (physischer Leib, Ätherleib, Astralleib) und sein Selbst? (1913)
GA 164:  Der Wert des Denkens für eine den Menschen befriedigende Erkenntnis. Das Verhältnis der Geisteswissenschaft zur Naturwissenschaft (1915)