Schulung esoterische
► Allererster Schritt

Wenn die Seele durch die Sinne und durch ihr Vorstellen an die Erscheinungen der Außenwelt hingegeben ist, dann kann sie bei wirklicher Selbstbesinnung nicht sagen, sie nehme diese Erscheinungen wahr, oder sie erlebe die Dinge der Außenwelt. Denn sie weiß in Wahrheit in der Zeit ihrer Hingabe an die Außenwelt nichts von sich. Freut sich die Seele über irgend einen Vorgang, so ist sie in dem Zeitpunkt des Freuens selbst Freude, soweit sie von der Sache weiß. Die Seele ist eins mit ihrem Erleben von der Welt; sie erlebt sich nicht als etwas, das sich freut, das bewundert, das sich ergötzt oder fürchtet. Sie ist Freude, Bewunderung, Ergötzen, Furcht. Wenn sich die Seele dies immer gestehen wollte, dann erschienen ihr die Zeiten, in welchen sie von dem Erleben an der Außenwelt zurücktritt und sich selbst betrachtet, erst in dem rechten Lichte. Sie erschienen als ein Leben von ganz besonderer Art, die zunächst ganz unvergleichlich ist mit dem gewöhnlichen Seelenleben. Mit dieser besondren Art des Lebens beginnen die Rätsel des seelischen Daseins im Bewußtsein aufzutauchen. Und diese Rätsel sind im Grunde die Quelle aller andern Weltenrätsel. Außenwelt und Innenwelt stellen sich vor den Menschengeist, wenn die Seele für kürzere oder längere Zeit aufhört mit der Außenwelt eins zu sein und sich in die Einsamkeit des Eigenseins zurückzieht. Dieses Zurückziehen ist kein einfacher Vorgang, der einmal sich vollzieht und dann etwa in derselben Art wiederholt werden könnte. Es ist vielmehr der Beginn einer Wanderung in vorher unbekannte Welten. Hat man die Wanderung begonnen, dann wird jeder Schritt, den man gemacht hat, die Veranlassung zu weiteren. Und er ist auch die Vorbereitung zu diesen weiteren. [1]

Durch eine ähnliche Art des inneren Erlebens, wie es sich vollzieht bei den gewöhnlichen Traumbildern, kann uns, nach bestimmten Voraussetzungen – durch eine Schulung –, eine ganz neue Welt vor uns auftauchen, von der wir bisher, bevor wir in sie eingetreten sind, ganz gewiß nichts gewußt haben, von der wir uns sagen können: Wir sind in der Lage in die Regionen des Traumlebens auch anders hinunterzutauchen, so daß wir in ihnen eine neue Welt uns aufgehend finden. So haben wir die Traumwelt auf der einen Seite durchzogen von den Reminiszenzen des gewöhnlichen Lebens, von den Nachbildern des Alltagslebens, und auf der anderen Seite haben wir eine Welt, ähnlich der Traumregion, in welcher Welt wir aber neue Erlebnisse, wirkliche, reale Erlebnisse haben, von denen wir nur sagen können, daß es Erlebnisse realer Art der anderen, geistigen Welten sind. Aber eine Bedingung muß erfüllt sein, wenn wir diese neuen Erlebnisse machen wollen im nächtlichen Halbschlaf, daß wir auszuschalten vermögen die Reminiszenzen des alltäglichen Lebens, die Bilder des alltäglichen Lebens. Solange diese hineinspielen in die Traumregion, solange machen sie sich darin wichtig, möchte ich sagen, und verhindern, daß die realen Erlebnisse der höheren Welten hereinkommen. Warum ist dieses? Wir tun das aus dem Grunde, weil wir im alltäglichen Leben, ob wir es nun gestehen oder nicht gestehen, das allergrößte Interesse haben an dem, was gerade uns betrifft, an unseren eigenen äußeren Erlebnissen. Der Mensch hängt tatsächlich einmal an den Sympathien und Antipathien des alltäglichen Lebens. Wenn Sie nun wirklich einmal durchgehen dasjenige, was in dem Buche «Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten?» als Anleitung gegeben ist für menschliche Seelenentwickelung, dann werden Sie sehen, daß im Grunde alles darauf hinausläuft, unser Interesse uns abzugewöhnen für das alltägliche Leben. [2] Wenn die Übungen energisch ernst genommen werden, dann ändern sich Sympathie und Antipathie gegenüber dem alltäglichen Leben. Das bedeutet viel, sehr viel, das bedeutet in der Tat, daß wir gerade diejenigen Kräfte bekämpfen, die so wirken, daß sich die Reminiszenzen in die Träume hineinschleichen. Denn sie tun das nicht mehr, wenn wir es auf irgendeinem Gebiete, ganz gleich auf welchem, so weit gebracht haben, unsere Sympathie und Antipathie zu ändern. Es kommt nicht darauf an, diese oder jene Sympathie oder Antipathie zu ändern, sondern es kommt nur darauf an, überhaupt irgendeine Sympathie oder Antipathie ernsthaft zu ändern. Dann kommt man nach bestimmten Übungen in die Region des Traumlebens so hinein, daß man gleichsam nichts hineinbringt von dem alltäglichen Leben, von den Sinneserlebnissen. Dadurch aber haben die neuen Erlebnisse gewissermaßen Platz darinnen. [3] Wenn solche Erlebnisse, wie ich sie sozusagen als elementare geschildert habe, auftreten, dann weiß man allerdings, daß wir gar nicht mehr im richtigen Sinne sprechen, wenn wir von diesem Bewußtsein als von einem Traumbewußtsein reden würden, sondern wir wissen, daß in der Tat unser alltägliches Bewußtsein zu dem, was wir da erleben können, nach und nach selber sich wie ein Traum zur Wirklichkeit verhält. Es wird für uns dann für die höhere Erfahrung richtig, daß das alltägliche Bewußtsein gerade eine Art Traumbewußtsein ist, und hier erst die Wirklichkeit beginnt. [4] Dasjenige, was in dem Buche «Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten?» oder in ähnlichen Büchern gesagt ist von der Praxis, um in die geistige Welt einzudringen, geht nicht weiter als bis dahin, wo vermittelt wird, Erkenntnisse dieser Welt zu gewinnen.

Hier muß selbstverständlich, soweit es sich handelt um die heutige Zeit und um die Notwendigkeit, heute diese Dinge der Welt zu übergeben, Halt gemacht werden. Würde man weiter gehen, so würde das Gebiet beginnen, welches man bezeichnen kann als dasjenige des Handelns in der übersinnlichen Welt. Das muß gewissermaßen jedem selbst überlassen werden. Wenn er die Sicherheit der Erkenntnis findet, dann muß ihm das Handeln selbst überlassen werden. [5]

Zitate:

[1]  GA 16, Seite 9f   (Ausgabe 1956, 94 Seiten)
[2]  GA 146, Seite 49f   (Ausgabe 1962, 163 Seiten)
[3]  GA 146, Seite 51f   (Ausgabe 1962, 163 Seiten)
[4]  GA 146, Seite 53   (Ausgabe 1962, 163 Seiten)
[5]  GA 273, Seite 83f   (Ausgabe 1981, 286 Seiten)

Quellen:

GA 16:  Ein Weg zur Selbsterkenntnis des Menschen. In acht Meditationen (1912)
GA 146:  Die okkulten Grundlagen der Bhagavad Gita (1913)
GA 273:  Geisteswissenschaftliche Erläuterungen zu Goethes «Faust» Band II: Das Faust-Problem. Die romantische und die klassische Walpurgisnacht (1916-1919)