Sankhyaphilosophie

Wenn diese Sankhyaphilosophie an uns herantritt, wie sie überliefert ist, so haben wir in ihr gerade das Gegenteil einer Einheitslehre gegeben. Wenn wir sie vergleichen wollen, so können wir sie vergleichen mit der Philosophie des Leibniz. Die Sankhyaphilosophie ist eine pluralistische Philosophie. Die einzelnen Seelen, die uns entgegentreten, Menschenseelen und Götterseelen, sie werden von der Sankhyaphilosophie nicht verfolgt zu einem einheitlichen Quell, sondern werden hingenommen als einzelne, sozusagen von Ewigkeit bestehende Seelen oder wenigstens als Seelen, nach deren Ausgangspunkt von einer Einheit nicht gesucht wird. Der Pluralismus der Seelen tritt uns entgegen in der Sankhyaphilosophie. Scharf betont wird die Selbständigkeit jeder einzelnen Seele, die da ihre Entwickelung führt in der Welt abgeschlossen für sich in ihrem Sein und Wesen. Und gegenüber steht dem Pluralismus der Seelen dasjenige, was man das prakritische Element nennt. Wir können es nicht gut mit dem modernen Wort Materie bezeichnen, weil dieses Wort materialistisch gemeint ist. Das ist aber in der Sankhyaphilosophie nicht gemeint mit dem Substantiellen, das gegenübersteht der Vielheit der Seelen und das wiederum nicht auf eine Einheit zurückgeführt wird.

Eine Seele umkleidet sich mit dem materiellen Grundelement, das sozusagen wie die einzelne Seele von Ewigkeit her gedacht wird. Es drückt sich aus in diesem materiellen Grundelement das Seelische. Dadurch nimmt dieses Seelische die verschiedenen Formen an. Und das Studium dieser materiellen Formen ist es insbesondere, was uns in der Sankhyaphilosophie entgegentritt. Da haben wir zunächst sozusagen die ursprünglichste Form dieses materiellen Elementes wie eine Art von geistiger Urflut, in die die Seele zuerst untertaucht. Wenn wir also den Blick hinlenken würden auf die Anfangsstadien der Evolution, so hätten wir gleichsam ein Undifferenziertes des materiellen Elementes und, untertauchend, die Vielheit der Seelen, um weitere Evolutionen durchzumachen. Das Nächste, was dann heraustritt, womit die Seele sich individuell schon umkleiden kann, ist die Buddhi. Das dritte Element, das sich herausformt, wodurch dann die Seelen immer individueller und individueller werden können, ist Ahamkara. Das sind immer niedrigere und niedrigere Gestaltungen der Urmaterie. Wir haben also die Urmaterie, deren nächste Form, die Buddhi und wiederum eine nächste Form, Ahamkara. Eine nächste Form ist Manas, eine nächste Form sind die Sinnesorgane, eine nächste Form die feineren Elemente, die wir in der physischen Umgebung haben. Das alles sind Hüllen der Seele im Sinne der Sankhyaphilosophie. [1]

Und auf verschiedene Weise sind zustandegekommen die Veden und der Inhalt der Sankhyaphilosophie. Die Veden beruhen durchaus auf einer ursprünglichen, noch wie eine Naturanlage in der Urmenschheit vorhandenen Inspiration, waren eingegeben, ohne daß sozusagen der Mensch etwas anderes dazu tat, als daß er sich vorbereitete in seiner ganzen Wesenheit, die von selbst kommende göttliche Inspiration ruhig und gelassen in seinem Innern zu empfangen. Anders war es bei der Ausbildung der Sankhyaphilosophie. Da ging es schon sozusagen ähnlich zu, wie es bei unserm heutigen Lernen zugeht, nur daß dieses letztere nicht durchdrungen ist von Hellsichtigkeit. Dazumal war es durchdrungen von Hellsichtigkeit. Es war hellsichtige Wissenschaft, es war Wissenschaft, die gesucht wurde wie wir heute Wissenschaft suchen, aber eben gesucht wurde von Leuten, denen noch zugänglich war Hellsichtigkeit, das war die Sankhyaphilosophie. Das Seelische bleibt in gewisser Weise vom Studium unberührt. Wie die Seele sich mehr ihre Selbständigkeit wahrt oder mehr untertaucht in die Materie, das wird unterschieden in der Sankhyaphilosophie. Ein Seelisches, das so in die äußere Form untergetaucht ist, aber sich als Seelisches ankündigt, sich offenbart, lebt in dem Sattvaelement. Ein Seelisches, das in die Form untertaucht, aber sozusagen überwuchert wird von der Form, nicht aufkornmt gegenüber der Form, lebt im Tamaselement. Und das, bei dem das Seelische dem Äußeren der Form gewissermaßen das Gleichgewicht hält, lebt im Rajaselement. Sattwa, Rajas, Tamas, die drei Gunas, gehören zur wesentlichen Charakteristik dessen, was wir Sankhyaphilosophie nennen. [2]

Wir müssen uns sagen: Wir erkennen heute aus ganz anderen Gründen heraus die Richtigkeit dessen, was uns da übermittelt wird. Aber wir müssen verstehen, wie mit anderen Mitteln in jenen alten Zeiten feine Unterscheidungen in bezug auf die menschliche Wesenheit erlangt wurden, feine, scharfsinnige Begriffe herausgeholt wurden aus dem, was der Mensch wissen kann, Begriffe mit scharfen Konturen und mit einer präzisen Anwendungsmöglichkeit auf die geistige und auch auf die äußerlich sinnliche Wirklichkeit. So finden wir denn, wenn wir nun in mancher Beziehung nur die Ausdrücke umändern, die wir heute gebrauchen für unseren veränderten Standpunkt, die Möglichkeit, auch jenen alten Standpunkt zu verstehen. Die ältere Form der theosophischen Entwickelung, zu der wir hinzugefügt haben das gegenwärtige okkulte Forschen, arbeitete mehr mit den traditionell erhaltenen alten Begriffen, namentlich mit denen der Sankhyaphilosophie. Es wurden die Dinge besonders mit den Ausdrücken dargestellt, die angewendet wurden von dem großen Reformator des Veden- und sonstigen indischen Wissens im 8. Jahrhundert der christlichen Zeitrechnung: von Shankaracharya. Wir werden uns am besten ein Verständnis davon verschaffen, wie die Sankhyaphilosophie das Wesen und die Natur des Menschen angeschaut hat, wenn wir uns zunächst die Tatsache vor Augen führen, daß ja der ganzen menschlichen Wesenheit ein geistiger Wesenskern zugrunde liegt, den wir uns immer so vor die Seele geführt haben, daß wir sagten: In der menschlichen Seele sind schlummernde Kräfte, die im Verlauf der Menschheitsentwickelung der Zukunft immer mehr und mehr herauskommen werden. Das Höchste zu dem wir zunächst aufblicken können und zu dem es die menschliche Seele bringen wird, wird das sein, was wir den Geistesmenschen (Atma) nennen. Was aber einmal menschliche Hülle sein wird, worin sich sozusagen der geistig-seelische Kern des Menschen einhüllen wird, der Geistesmensch, das wird für den Menschen zwar erst in Zukunft sozusagen eine Bedeutung haben; aber im großen Weltall ist das, zu dem sich ein Wesen erst hinaufentwickelt, ja immer da. Wir können sagen: Andere Wesenheiten haben heute schon Hüllen, die einstmals unseren Geistesmenschen bilden werden. Und das, was so im Weltall vorhanden ist, noch nicht individuell differenziert, sondern gleichsam wie eine geistige Wasserflut undifferenziert Räume und Zeiten erfüllend, was so vorhanden war und was so vorhanden ist und vorhanden sein wird und woraus alle anderen Gestaltungen herauskommen, das nannte eben die Sankhyaphilosophie die höchste Form der Substanz. [3]

Als die nächste Form, die sich herausentwickelt aus dieser substantiellen Urflut, haben wir das anzusehen, was wir von oben herunter als das 2. Glied des Menschen erkennen, was wir nennen den Lebensgeist, oder wie man es nennen kann mit einem orientalischen Ausdruck, die Buddhi. Der Mensch wird erst in der Zukunft diese Buddhi im normalen Leben entwickeln. Aber sie ist als geistiges Formprinzip übermenschlich bei anderen Wesenheiten (siehe: Hierarchien) immer vorhanden gewesen, und indem sie vorhanden gewesen ist, ist sie als erste Form herausdifferenziert worden aus der ursprünglichen Urflut. Wenn wir dann die weitere Evolution dieses substantiellen Prinzips ins Auge fassen, so tritt uns die dritte Form entgegen das, was genannt wird im Sinne der Sankhyaphilosophie Ahamkara. Während die Buddhi sozusagen an der Grenze des Differenzierungs-prinzips steht, erst andeutet eine gewisse Individualisierung, tritt die Form des Ahamkara schon völlig differenziert auf, so daß, wenn wir von Ahamkara sprechen, wir gleichsam uns vorzustellen haben, daß die Buddhi sich herunterorganisiert zu selbständigen, wesenhaften, substantiellen Formen, die also dann individuell in der Welt existieren. Wir hätten uns gleichsam vorzustellen, wenn wir ein Bild gewinnen wollen von dieser Evolution, eine gleichmäßig verteilte Wassermasse als substantielles Urprinzip, dann aufquellend so, daß sich einzelne, nicht zu vollen Tropfen sich loslösende Formen bilden, Formen, die wie kleine Wasserberge aus der gemeinsamen Substanz auftauchen, die aber mit der Basis in der gemeinsamen Urflut darinnen sind: da hätten wir Buddhi. Und indem diese Wasserberge sich loslösen zu Tropfen, zu selbständigen Kugeln, da haben wir die Form des Ahamkara. Durch eine gewisse Verdichtung dieses Ahamkara, also der schon individualisierten Form, jeder einzelnen Seelenform, entsteht dann das, was als das Manas bezeichnet wird. Wir schieben zwischen Buddhi und Manas nicht Ahamkara ein, sondern vereinigen für unsere Begriffe Ahamkara mit Manas und bezeichnen das zusammen als Geistselbst. In jenen alten Zeiten war es durchaus gerechtfertigt, die Trennung vorzunehmen, weil man jene bedeutsame Charakteristik damals nicht geben konnte, die wir heute geben müssen, wenn wir verständlich für unsere Zeit sprechen wollen: die Charakteristik, die auf der einen Seite aus dem Einfluß des luziferischen und auf der anderen Seite aus dem Einfluß des ahrimanischen Prinzips kommt. Diese Charakteristik fehlt durchaus der Sankhyaphilosophie. [4] Gegenüber den vielen Sinnen, welche wir den einzelnen Gebieten der Außenwelt zuwenden, können wir von einem solchen uns die Seele erfüllenden Sinn sprechen, von dem wir wissen, daß er nicht mit einem einzelnen Sinnesorgan zusammenhängt, sondern unsere ganze menschliche Wesenheit in Anspruch nimmt als sein Werkzeug. Diesen inneren Sinn mit Manas zu bezeichnen, ist ganz im Sinne der Sankhyaphilosophie. Wenn wir also hinuntersteigen die Stufenleiter der Entwickelungsformen, kommen wir vom Ahamkara zum Manas, im Sinne der Sankhyaphilosophie, und Manas, differenziert in einzelne Formen, ergibt diejenigen übersinnlichen Kräfte, welche unsere einzelnen Sinne konstituieren. Aus dem Manas hat sich also zum Beispiel herausdifferenziert die Kraftsubstanz, die das Auge konstituiert. Auf einer früheren Stufe, als der physische Leib des Menschen noch nicht in der heutigen Form vorhanden war – so stellt es sich die Sankhyaphilosophie vor –, da war die Seele eben in die bloßen Kräfte, die das Auge konstituierten, hineinversenkt. Wir wissen, daß das heutige menschliche Auge zwar schon auf der Saturnstufe veranlagt worden ist, daß es sich aber erst nach dem Zurückgang des Wärmeorgans, das in der Zirbeldrüse (siehe: Epiphyse) verkümmert heute uns vorliegt, also verhältnismäßig spät entwickelt hat. Die Kräfte, aus denen es sich entwickelt hat, waren übersinnlicherweise schon vorher da, und die Seele lebte in ihnen. So stellte es sich auch die Sankhyaphilosophie vor: dadurch, daß die Seele in diesen Differenzierungsprinzipien lebt, hängt sie an dem Dasein der Außenwelt, entwickelt sie den Durst nach diesem Dasein. Durch die Sinneskräfte hängt die Seele zusammen mit der Außenwelt, entwickelt sie den Durst nach diesem Dasein. Die Seele sendet gleichsam ihre Fühlhörner durch die Sinnesorgane und hängt mit dem äußeren Dasein kraftmäßig zusammen. Dieses kraftmäßige Zusammenhängen eben, als eine Summe von Kräften aufgefaßt, als reale Summe von Kräften, fassen wir zusammen im astralischen Leib des Menschen. Aus diesen Sinneskräften entsteht wiederum das, was die feineren Elemente sind, aus denen wir uns den menschlichen Ätherleib zusammengesetzt denken. [5]

So müssen wir uns also vorstellen, daß sich gebildet haben im Laufe der Entwickelung: Urflut, Buddhi, Ahamkara, Manas, Sinnessubstanzen, feinere Elemente. In der Außenwelt, dem Reiche der Natur sind ja auch diese feineren Elemente als Ätherleib oder Lebensleib, bei den Pflanzen zum Beispiel. Da haben wir uns im Sinne der Sankhyaphilosophie vorzustellen, daß dieser ganzen Evolution zugrunde liegt von oben nach unten bei der Pflanze eine Entwickelung, die von der Urflut heruntergeht. Nur verläuft das alles bei der Pflanze im Übersinnlichen und wird erst real in der physischen Welt, indem es sich verdichtet zu den feineren Elementen, welche im Ätherleib der Pflanze leben, während es beim Menschen so ist, daß für die jetzige Entwickelung schon die höheren Formen und Prinzipien vom Manas an physisch sich offenbaren. Die einzelnen Sinnesorgane werden äußerlich zur Offenbarung gebracht, bei der Pflanze erst jenes späte Produkt, das entsteht, wenn sich verdichtet die Sinnessubstanz zu den feineren Elementen, zu den ätherischen Elementen. Und aus der weiteren Verdichtung der ätherischen Elemente entstehen die groben Elemente, aus denen alle physischen Dinge bestehen, die uns in der physischen Welt entgegentreten. Wenn wir also von unten nach oben gehen, so können wir im Sinne der Sankhyaphilosophie den Menschen gliedern in seinen groben physischen Leib, in den feineren ätherischen Leib, in einen astralischen Leib – dieser Ausdruck wird in der Sankhyaphilosophie nicht gebraucht, dafür der Ausdruck der Kraftleib, der die Sinne konstituiert –, dann in einen inneren Sinn, Manas, dann in Ahamkara, das Prinzip, welches zugrunde liegt der menschlichen Individualität, welches bewirkt, daß der Mensch nicht nur einen inneren Sinn hat, durch den er wahrnimmt die einzelnen Sinnesgebiete, sondern, daß der Mensch sich als eine einzelne Wesenheit, als Individualität fühlt. Das bewirkt Ahamkara. Und dann kommen die höheren Prinzipien, die im Menschen erst veranlagt sind: Buddhi und das, was die sonstige orientalische Philosophie gewohnt worden ist, Atman zu nennen, was kosmisch gedacht wird von der Sankhyaphilosophie als geistige Urflut. Und in den Formen oder in dem Prakriti, das alle Formen vom groben physischen Leib bis hinauf zur Urflut umfaßt, in diesem Prakriti lebt Purusha, das Geistig-Seelische, das aber in einzelnen Seelen monadisch vorgestellt wird, so daß die einzelnen Seelenmonaden sozusagen ebenso anfang- und endlos gedacht werden, wie dieses «materielle» Prinzip Prakriti anfang- und endlos vorgestellt wird. [6]

Es stellt sich diese Philosophie also einen Pluralismus von Seelen vor, die untertauchen in das Prakritiprinzip und sich herunterentwickeln von der höchsten, undifferenzierten Form der Urflut, mit der sie sich umgaben, bis herein in die Einkörperung in den groben physischen Leib, um dann wiederum die Umkehr zu beginnen, nach der Überwindung des groben physischen Leibes sich wieder hinaufzuentwickeln und wiederum dann zurückzukommen bis zur Urflut, sich auch von dieser zu befreien, um als freie Seelen in das reine Purusha einzuziehen.

Wenn wir diese Art von Erkenntnis auf uns wirken lassen, so sehen wir, wie sozusagen dieser uralten Weisheit das zugrunde liegt, was wir uns heute wieder erobern aus den Mitteln, die uns unsere seelische Versenkung (siehe: Schulung) geben kann; und wir sehen im Sinn der Sankhyaphilosophie, wie auch Einsicht vorhanden ist in die Art und Weise, wie nun mit jedem dieser Formprinzipien die Seele verbunden sein kann. Die Seele kann zum Beispiel verbunden sein mit der Buddhi so, daß sie gleichsam ihre volle Selbständigkeit möglichst wahrt innerhalb der Buddhi, daß nicht die Buddhi, sondern das Seelenhafte zur Geltung kommt in überwiegendem Maße. Es kann auch das Umgekehrte der Fall sein. Die Seele kann ihre Selbständigkeit gleichsam in eine Art von Schlaf, in Lässigkeit und Faulheit hüllen, so daß die Hüllennatur sich vordrängt. Das kann auch der Fall sein bei der äußeren physischen Natur, die aus der groben Materie besteht. Wir brauchen da nur den Menschen zu betrachten. Es kann einen Menschen geben, welcher vorzugsweise sein Geistig-Seelisches zum Ausdruck bringt, so daß jede Bewegung, jede Geste, jeder Blick, die da vermittelt werden durch den groben physischen Leib, sozusagen zurücktreten gegenüber der Tatsache, daß sich darin ausdrückt das Geistig-Seelische. Dieser Zustand, wo die Seele das äußerliche Hüllenprinzip besiegt, ist der Sattwazustand. Von diesem Sattwazustand kann gesprochen werden sowohl beim Verhältnis der Seele zu Buddhi und Manas, wie auch beim Verhältnis der Seele zum Leibe, der aus feinen und groben Elementen besteht. Wenn wir unsere Gesichtsmuskeln bewegen, so wie die Seele spricht, dann herrscht das Sattvaprinzip; wenn uns die Fettmassen unseres Gesichtes eine bestimmte Physiognomie aufprägen, so wird überwältigt das seelische Prinzip vom äußeren physischen Hüllenprinzip, da lebt die Seele im Verhältnis von Tamas zu den Naturprinzipien. Und wenn beide das Gleichgewicht halten, dann spricht man von Rajaszustand. Das sind die drei Gunas. [7]

Es bleibt auch noch in die griechische Philosophenzeit hinein etwas von einem Anklang an das alte Sankhyawissen. Wir finden noch bei Aristoteles die Einteilung der menschlichen Wesenheit in den groben physischen Leib, den er noch gar nicht so sehr erwähnt, aber dann die Einteilung, wobei er glaubt, daß er das Seelische gibt, während die Sankhyaphilosophie weiß, daß es nur die Hüllen sind. Wir finden die vegetative Seele, was zusammenfallen würde mit dem feineren Elementenleib im Sinne der Sankhyaphilosophie. Aristoteles glaubt damit etwas Seelisches zu geben, charakterisiert aber nur die Beziehungen zwischen dem Seelischen und Leiblichen, die Gunas. Dann gibt Aristoteles für das, was schon in die Sinnessphäre heraufreicht, was wir den astralischen Leib nennen, etwas, was er als ein seelisches Prinzip unterscheidet. Also er unterscheidet nicht mehr klar das Seelische von dem Leiblichen, weil es ihm schon untergetaucht ist in das leiblich Formenhafte, er unterscheidet das Ästhetikon, unterscheidet weiter im Seelischen das Orektikon, Kinetikon und das Dianoetikon. Das sind seelische Stufen im Sinne des Aristoteles, aber bei ihm tritt uns schon nicht mehr ein klares Auseinanderhalten des Seelischen und Hüllenhaften entgegen. Er glaubt eine Einteilung der Seele zu geben, während die Sankhyaphilosophie die Seele in ihrer eigenen Wesenheit ganz monadisch erfaßte und alles, was die Seele differenziert, gleichsam nach außen hin hineinverlegte in das Hüllenprinzip, in das Prakritiprinzip.

Aber auf einem Gebiet, man möchte sagen, auf materiellem Gebiet, weiß Aristoteles noch etwas zu erzählen, was wie ein Herüberklingen des Prinzips der drei Zustände ist: das ist, wenn er von Licht und Finsternis in den Farben spricht. Da sagt er: Es gibt Farben, welche mehr Finsternis in sich haben und Farben, welche mehr Licht haben, und Farben, welche dazwischen stehen. In der Sankhyaphilosophie haben wir dieses Prinzip der drei Zustände für den gesamten Umfang der Welterscheinungen; da haben wir Sattwa, wenn das Geistige das Natürliche überwiegt. Aristoteles hat noch diese selbe Charakteristik da, wo er von den Farben spricht. Er gebraucht nicht das Wort, aber man könnte sagen: Rot und Rotgelb stellen dar den Sattvazustand des Lichtes, das Grün stellt dar den Rajaszustand in bezug auf Licht und Finsternis, und das Blau und Violett, wo die Finsternis überwiegt, stellen dar den Tamaszustand in bezug auf Licht und Finsternis. Dasselbe tritt wieder bei Goethe auf. Goethe gliedert die Farbenerscheinungen so, daß er sie darstellt nach den drei Zuständen Sattwa, Rajas und Tamas. So tritt nach und nach wie aus einem Geistesdunkel heraus in die neue Geistesgeschichte mit den neuen Mitteln erforscht, was einmal durch ganz andere Mittel der Menschheit errungen worden ist. [8] Diese Sankhyaphilosophie, sie ist vorbuddhistisch, was uns ja die Buddhalegende, ich möchte sagen, handgreiflich deutlich vor Augen führt. Denn es erzählt mit Recht die indische Lehre, daß Kapila der Begründer der Sankhyaphilosophie ist. Buddha ist aber geboren in dem Wohnort des Kapila in Kapilavastu, womit hingewiesen ist darauf, wie herauswächst der Buddha aus der Sankhyalehre. Er wird selbst seiner Geburt nach hinversetzt, wo einstmals derjenige gewirkt hat, der zum erstenmal diese große Sankhyaphilosophie zusammengefaßt hat. [9]

Zitate:

[1]  GA 142, Seite 17ff   (Ausgabe 1960, 140 Seiten)
[2]  GA 142, Seite 20f   (Ausgabe 1960, 140 Seiten)
[3]  GA 142, Seite 31ff   (Ausgabe 1960, 140 Seiten)
[4]  GA 142, Seite 34f   (Ausgabe 1960, 140 Seiten)
[5]  GA 142, Seite 37ff   (Ausgabe 1960, 140 Seiten)
[6]  GA 142, Seite 39ff   (Ausgabe 1960, 140 Seiten)
[7]  GA 142, Seite 41ff   (Ausgabe 1960, 140 Seiten)
[8]  GA 142, Seite 44ff   (Ausgabe 1960, 140 Seiten)
[9]  GA 142, Seite 47   (Ausgabe 1960, 140 Seiten)

Quellen:

GA 142:  Die Bhagavad Gita und die Paulusbriefe (1912/1913)