Salomo

Das war das große Geheimnis der Initiation, daß die lange vorbereitete Seele durch dreieinhalb Tage aus ihrem Körper herausgeführt wurde in eine ganz andere Welt; da war sie abgeschlossen von der äußeren Welt und drang in die geistige Welt ein. Immer gingen unter den Völkern solche Menschen herum, die Verkünder der geistigen Welt sein konnten; sie waren es, die das durchgemacht hatten, was in der Bibel angedeutet wird als das Ruhen des Jonas im Walfisch. Dazu wurde ein solcher vorbereitet, und er trug dann als alter Initiierter, wenn er vor dem Volke erschien, das Zeichen an sich, das die an sich trugen, die selbst die geistige Welt erleben konnten, das Zeichen des Jonas. Dies war die eine Art der Einweihung. «Es gibt», so sagte der Christus, «im alten Sinn kein anderes Zeichen denn das Zeichen des Jonas». Es gibt allerdings als eine Erbschaft der alten Zeit noch dieses, daß man ohne sein Zutun, ohne Initiation dumpf, dämmerhaft hellsehend werden kann und durch Offenbarung von oben in die geistige Welt hinaufgeführt werden könnte. Christus wollte darauf hinweisen, daß es neben der eben geschilderten (mit dem Zeichen des Jonas) jene zweite Art von Eingeweihten gäbe, die dadurch, daß sie eine entsprechende Abstammung hinter sich hatten, fähig waren, ohne eine besondere Initiation durchgemacht zu haben, in einer Art erhöhten Trancezustandes Offenbarungen von oben zu bekommen. Und der Christus wies darauf hin, daß diese zweifache Art, sich in die geistige Welt zu versetzen, von den alten Zeiten überkommen ist. Er sagte: Sehet hin und erinnert euch an den König Salomo. In diesem wollte er eine Individualität jener Art hinstellen, welche ohne ihr Zutun, durch Offenbarung von oben, in die geistige Welt hineinschauen konnte. Daher ist auch die Königin von Saba, die zu dem König Salomo kommt, die Trägerin der Weisheit von oben, die Repräsentantin derjenigen, die dazu prädestiniert sind, alle die Erbstücke dumpfen, dämmerhaften Hellsehens zu haben, wie es in der atlantischen Zeit alle Menschen gehabt haben. [1]

Es mußten die Keime zu jener Vollkommenheit des Leibes des Jesus von Nazareth von langer Hand her vorbereitet werden. Die Arbeit wurde nun so verrichtet von den hinter der Entwickelung tätigen Kräften, daß tatsächlich in einer gewissen Zeit ein Vorfahre des Jesus da war, der schon die Anlage enthielt zu den möglichst vollkommensten Fähigkeiten, die dann herauskamen in dem Leibe, der der Träger des Zarathustra wurde. Also in einem Vorfahren des Jesus war sozusagen die Anlage vorhanden zu einer richtigen Ausbildung aller 7 Glieder der menschlichen Natur. Mit anderen Worten: Wenn wir in der Vorfahrenreihe des Jesus von Nazareth heraufgehen, müssen wir einen solchen Vorfahren finden, der die Keime der 7 gliedrigen Menschennatur, wenn auch nicht so vollkommen ausgebildet wie in dem Leibe des Jesus von Nazareth, so doch in der Anlage zu dieser Vollkommenheit, enthielt. Wenn das auch nicht in der äußeren Überlieferung ausgedrückt ist, die althebräische Geheimlehre kannte diese Tatsache. Sie wußte, daß einmal ein Mensch gelebt hat, von dem man sagen muß, in ihm wirkten die 7 menschlichen Glieder so, daß man sie als ganz besonders bemerkenswerte zu bezeichnen hat. Und so nannten die Eingeweihten der althebräischen Geheimlehre bei diesem Vorfahren das Ich «Itiel» um damit anzudeuten, daß in diesem Vorfahren das Ich jene Kraft haben mußte – denn das Wort «Itiel» würde ungefähr heißen «Kraftbesitzer» –, jene Kraft, jene Kühnheit haben mußte, die, wenn sie sich durch die Geschlechter vererbte, der richtige Ich-Träger werden konnte für jene hohe Wesenheit, die dann wiedererscheinen sollte in dem Jesus von Nazareth. So nannten sie den Astralleib jenes Vorfahren «Lamuel»; das würde ungefähr bezeichnen einen astralischen Leib, der so entwickelt ist, daß er das Gesetz, die Gesetzmäßigkeit nicht allein außerhalb seiner, sondern als in sich tragend fühlt. So nannten sie den Ätherleib dieses Vorfahren «Ben Jake»; das würde heißen: ein solcher Ätherleib, der möglichst in sich durchgearbeitet worden ist und in gewisser Vollkommenheit Gewohnheiten in sich aufnehmen kann. Und den physischen Leib dieses Vorfahren nannten sie «Agur», aus dem Grunde, weil die physische Tätigkeit, die Fähigkeit dieses Vorfahren auf dem physischen Plan darinnen bestanden hat, daß er das, was an alten Überlieferungen vorhanden war, sammelte; denn «Agur» würde heißen «der Sammler». Wie dann durch das, was im Leibe des Jesus vorgegangen ist, gesammelt wurden alle alten Lehren der Welt, so hat sich das schon als Anlage bei diesem Vorfahren durch das Sammeln der alten Urkunden entwickelt. Und was wie Atma oder Geistesmensch in diesem Vorfahren arbeitete, das nannten sie, weil mit einer besonderen Sorgfalt sozusagen die Liebe der göttlich-geistigen Wesenheiten an dieser Anlage zum Geistesmenschen arbeitete, mit einem Wort, das ungefähr «der Liebling Gottes» bedeuten würde, «Jedidjah». Und was als Buddhi, oder Lebensgeist hineinwirkte in diesen Vorfahren, wovon sie sagten: In diesem Vorfahren muß ein solcher Lebensgeist wirken, daß er wie ein Lehrer des ganzen Volkes wirken kann, damit sich ausgießen kann, was dieser Lebensgeist enthält, auf das ganze Volk –, das bezeichneten sie als «Kohelet». Und endlich nannten sie Manas oder Geistselbst dieses Vorfahren – weil sie sagten, ein solches Geistselbst muß die Anlage in sich enthalten innerlich abgeschlossen zu sein, in sich im Gleichgewicht zu sein –, mit einem Wort, das bedeutet «inneres Gleichgewicht», «Salomo». Sieben Namen hat für die althebräische Geheimlehre diese Persönlichkeit. Und wenn später sozusagen die Menschen, auch gewisse Sekten unter den Juden selber, nicht zufrieden waren mit Salomo – ob mit Recht oder Unrecht, soll hier nicht untersucht werden, so kann das dadurch erklärt werden, daß in diesem Salomo hohe, ganz große, bedeutsame Anlagen waren, die sich zu dem angegebenen Ziel dann weiter verpflanzen sollten, und daß der einzelne Mensch auf einer bestimmten Stufe der Entwickelung in seinem äußeren Leben durchaus nicht immer das darzustellen braucht, was er als Anlage vererben soll auf seine Nachkommen, daß er vielleicht gerade deshalb, weil hohe Kräfte in ihm sind, mehr der Möglichkeit ausgesetzt ist, gegen die Richtung solcher Kräfte zu fehlen, als ein anderer, der solche Kräfte nicht in sich hat. Was man als moralische Fehler bei Salomo bemerken würde, das würde nicht in Widerspruch stehen mit dem, was die althebräische Geheimlehre in Salomo sieht, sondern es würde sich sogar im Gegenteil gerade aus dieser Tatsache heraus das Fehlerhafte an Salomo erklären. [2]

Zitate:

[1]  GA 114, Seite 212f   (Ausgabe 1955, 225 Seiten)
[2]  GA 116, Seite 81uf   (Ausgabe 1982, 174 Seiten)

Quellen:

GA 114:  Das Lukas-Evangelium (1909)
GA 116:  Der Christus-Impuls und die Entwickelung des Ich-Bewußtseins (1909/1910)