Schlaf und meditatives Leben

Jetzt, (nachdem man bewußt das Lebenstableau kennengelernt hat,) wird der Traum zu einer vollbewußten Wirklichkeit. Er wird sogar mehr, als das gewöhnliche Bewußtsein sieht. Man schaut zunächst das geistige Dasein, das im Körper drinnen lebt, das im Schlafe von ihm unabhängig ist, ja, das der Schöpfer des Körperlichen ist. (Und) da fangen die moralischen Gesetze an, sich ebenbürtig neben die Naturgesetze hinzustellen. Aber man kommt damit nur bis zum Erleben des eigenen geistigen Daseins des Menschen im Erdendasein. Will man weiterkommen, so muß man noch andere Fähigkeiten in der Seele entwickeln. – Denken Sie sich, Sie erinnern sich an einen Zeitpunkt des Tages bis zum Morgen, wo Sie aufstanden, ja aufgewacht sind. Wenn Sie sich Mühe geben, kann der Tagesverlauf bis zu diesem Zeitpunkte vor Ihrer Seele stehen. Wenn Sie nun nicht in der Weise den Tagesverlauf sich vor die Seele stellen, daß Sie beim Morgen anfangen, dann zu den Erlebnissen des Vormittags und so weiter gehen, sondern wenn Sie den Tagesverlauf in rückwärtigem Ablauf vor die Seele stellen, so daß Sie bei dem bestimmten Zeitpunkte anfangen und ihn nun weiter rückwärts verfolgen, dann können Sie auch sagen, Sie kommen dann bis zu der Nacht, wo Sie geschlafen haben. Aber da stückeln Sie dann nichts an, da bleibt etwas unausgefüllt, und was sich dann an die rückwärts vorgestellten Ereignisse wieder anschließt, ist das letzte Erlebnis vor dem Einschlafen, und dann können Sie wieder den Tagesverlauf des vorigen Tages sich vor die Seele rücken. Kurz, wenn der Mensch in dieser Weise im gewöhnlichen Leben erinnert, so bleiben immer Abgründe zwischen dem bewußten Erleben – die Abgründe, die wir im bewußtlosen Zustande während des Schlafens durchgemacht haben. Um nun weiterzukommen mit den Übungen, die sich an dieses Rückwärts-Erleben anknüpfen können, handelt es sich darum, daß man einen recht starken Wirklichkeitssinn sich aneignet. Ein solcher Wirklichkeitssinn ist zunächst nicht das, was die Menschen der Gegenwart stark auszeichnet. Es ist sogar etwas, was nicht ganz leicht zu erringen ist, denn mit Bezug auf das Erinnern bleiben die Menschen zumeist bei dem stehen, was im engsten Sinne irgendwie an ihrer Persönlichkeit haftet. Sie ziehen in ihren Gedanken nicht so stark die Fäden nach der Außenwelt, daß sich diese Fäden nach der Außenwelt mit ihren Erinnerungen verknüpfen. Der Mensch hat zumeist überhaupt nicht die Neigung, mit seinen Erinnerungen in der Außenwelt zu leben, real in der Außenwelt zu leben. Wie sehr das der Fall ist, davon kann man sich im alltäglichen Leben überzeugen. Ich habe schon Menschen kennengelernt, die zum Beispiel am Vormittag eines Tages eine Dame gesehen haben, die sie sehr interessiert hat, und wenn man sie fragt: Wie war die Farbe des Kleides der Dame? – wissen sie es nicht. Also ist es so, als wenn sie überhaupt die Dame nicht gesehen hätten, denn wenn sie sie gesehen haben, so haben sie doch damit auch die Farbe des Kleides gesehen. Ja, ich habe schon Leute kennengelernt, die haben sich in einem Raume aufgehalten und wußten nachher nicht, ob Bilder oder keine Bilder in dem Raume waren. Die unglaublichsten Erfahrungen kann man da machen. So muß daher der, der sich einen Wirklichkeitssinn aneignen will, sich erst darauf trainieren, auch in der äußeren sinnlichen Wirklichkeit voll zu leben, so daß das, an dem er vorübergeht, so vor ihm steht, wie es da draußen in der Wirklichkeit ist. Nur wenn man sich darauf trainiert, dasjenige, was einem von den Dingen in der Erinnerung bleibt, anzuknüpfen an die äußere Welt der Wirklichkeit, dann entwickelt man den Sinn, für eine solche Geist-Erkenntnis eine fruchtbare Rückschau zustande zu bringen. Denn für das gewöhnliche Erinnerungsvermögen der Menschen schließt sich sehr leicht das Erinnerungsbild vor dem letzten Einschlafen an dasjenige nach dem letzten Aufwachen an. Ganz ohne Schwierigkeiten lassen die Menschen einfach das, was als Nachtabgrund zwischen diesen beiden Bildern liegt, weg, sie stückeln das Bild des ersten Ereignisses nach dem Aufwachen unmittelbar an dasjenige des letzten Ereignisses vor dem Einschlafen an. Sie bemerken es meistens gar nicht mit einem lebhaften Bewußtsein, daß etwas dazwischen liegt. [1]

Will man sich aber ein solches Bewußtsein aneignen, daß man das, was man im Inneren erlebt hat, verknüpft mit dem Bilde, das von der Außenwelt da ist, dann muß man sich klarmachen, daß ja das, was man am Morgen nach dem Aufwachen erlebt, verbunden ist mit der ganzen Natur, die auf uns einen Eindruck macht, verbunden mit der aufgehenden Sonne, mit all den Eindrücken, die man durch die aufgehende Sonne hat, und so weiter – und was man als die letzten Ereignisse vor dem letzten Einschlafen hat, ist verbunden mit etwas, was in der Natur nicht zusammengehört, nämlich mit dem, was man nach dem letzten Aufwachen erlebte. Da wird man an den Bildern, die da nebeneinander stehen, gewahr werden: Da fehlt ja etwas! – Aber indem man so übt, indem man wiederum Seelenfähigkeiten erweckt, die im gewöhnlichen Leben nicht da sind, erlangt man die Kraft, daß man beim Rückwärtsschauen, wo man jetzt das erste Bild nach dem letzten Aufwachen hat und vordringen will zu dem letzten Bilde vor dem letzten Einschlafen, nun nicht eine Strecke Finsternis geistig aufzuhellen, daß etwas sich hineinstellt in diese Finsternis. Wie man sonst für die tagwachen Zustände nur das verfolgt, was man erlebt hat, so tritt da plötzlich zwischen dem Erlebnis vor dem letzten Einschlafen etwas dazwischen, wovon man sich jetzt sagt: Du erinnerst dich ja an etwas, nur an etwas, was du bisher nicht gewußt hast. – Es ist genau so wie im gewöhnlichen Erinnern sonst, nur daß man von dem, was nun herauftaucht, vorher nichts wußte. Jetzt fängt man an, zu erinnern, was man sonst verschlafen hat, selbst im traumlosen Schlafe verschlafen hat. Die leere Zeit, die man sonst im Bewußtsein hat zwischen dem letzten Erlebnis vor dem Einschlafen und dem ersten nach dem Aufwachen, sie füllt sich aus. Und wie sich unser gewöhnliches Bewußtsein ausfüllt mit den Erlebnissen des Naturdaseins, so füllt sich jetzt unser Bewußtsein aus mit dem, was wie eine Erinnerung heraufsteigt, aber wie eine, von der man jetzt weiß, du hast es im Unbewußten erlebt. Unser Bewußtsein füllt sich jetzt aus mit dem Seeleninhalt, der die äußeren Erlebnisse nicht mitgemacht, sondern sich vor den äußeren Erlebnissen zurückgezogen hat, schlafend geworden ist. Jetzt lernt man erkennen, wie die schlafende Seele wirklich ist, wenn sie nicht die Kraft hat, ihre Erlebnisse, die sie während des Schlafes in der geistigen Welt hat, so sich bewußt zu machen, wie der Mensch im Tagesleben sich die Ereignisse des physischen Lebens bewußt macht. Jetzt lernt man die menschliche Innerlichkeit als Geist und Seele wirklich kennen, und in diesem Augenblicke blickt man über das Erdenleben hinaus. Und man wird jetzt dasjenige, was man auf die geschilderte Weise wie ein großes aber konkretes Erinnerungstableau seines bisherigen Erdenlebens erblickt, nun angliedern können an das, was man war als seelisch-geistiger Mensch in einer rein geistigen Welt, bevor man durch die Geburt oder Konzeption in diese physische Welt heruntergestiegen ist. Und ebenso gliedert sich an dieses Erleben ein anderes. Wenn man während des ganzen Übens zu alledem hinzuentwickelt eine Fähigkeit, die gewöhnlich nicht als eine Erkenntnisfähigkeit angesehen wird, die aber doch eine solche auch ist –, wenn man das entwickelt, was Liebe der Seele ist, volle Hingabe an das, was einem entgegentritt, so stark, daß einem diese Liebe bleibt, wenn man auch auf das eigene Selbst jetzt sieht, daß man das, was als Neues in der Seele auftritt, lieben kann mit einer wirklich hingebungsvollen Liebe – dann entwickelt sich die Möglichkeit, mit vollem Bewußtsein im Wachzustande sich freizumachen im innerlichen Erleben von dem Körperlichen. In dem Augenblick aber, wo man sich im inneren Erleben frei gemacht hat von dem Körperlichen, da weiß man, wie es mit dem Menschen ist, wenn er ohne seine Köperlichkeit sein Leben durchlebt. Und im Bilde tritt einem vor die Seele die Tatsache des Durchgehens durch die Todespforte, des Sterbens. Hat man einmal erkannt, was es heißt, unabhängig vom Leibe in seinen geistigen Kräften sich zu erfassen, dann weiß man auch, was man ist im geistigen Dasein, wenn man den Leib abgelegt hat und durch die Todespforte geschritten ist. Und man lernt auch die Umgebung kennen, die dann für den Menschen vorhanden ist. Man lernt erkennen, wie mit dem Leibe, wenn er abgelegt ist, dasjenige von uns abfällt, was selbst gestaltet hat als Mensch, das Seelisch-Geistige des Menschen. So lernt man erkennen die Erlebnisse, die man mit anderen Menschen gehabt hat. Das aber, was in diesen Sinneserlebnissen gesteckt hat, wie sich Seele zu Seele gefunden hat, was sich ausgelebt hat in den Beziehungen zu anderen Menschen, zu näher und ferner stehenden, was sich im Raume und in der Zeit abspielte, das Ewig-Geistige lernt man erkennen, wie es die irdische Form des Erlebens abstreift. Und um so mehr erlebt dann die Seele das, was geistig in ihr gesteckt hat, an Beziehungen zu anderen Menschen. Und es wird das, was sonst nur Gegenstand des Glaubens ist, Erkenntnisgewißheit. [2]

Zitate:

[1]  GA 231, Seite 23ff   (Ausgabe 1962, 160 Seiten)
[2]  GA 231, Seite 26ff   (Ausgabe 1962, 160 Seiten)

Quellen:

GA 231:  Der übersinnliche Mensch, anthroposophisch erfaßt (1923)