Schicksal

Wer das Schicksal im Menschenwesen waltend schaut, der steht schon im Geistigen darinnen. Denn die Schicksalszusammenhänge haben gar nichts Naturhaftes an sich. [1] Das Schicksal verbindet sich mit der Seele unter der Schwelle des Bewußtseins. Da aber zeigt sich, wie auch dieses Schicksal beschaffen sein mag, daß es intim mit der Seele zusammenhängt, daß es gerade der Arbeiter ist an der Gestaltung unseres Seelenlebens. Diese Seele wird durch Verrichtungen, durch Kräfte, durch Wirkungen, die nicht ins gewöhnliche Bewußtsein hineinreichen, durch dieses gesamte Leben, das durch die wiederholten Erdenleben geht, hindurchgetragen. Da sehen wir die Verknüpfung des menschlichen Schicksals mit der menschlichen Seele. Da gelangen wir durch das Schicksal selber in die unterbewußten Gründe, in die ewigen Gründe der Menschenseele. Und erst da, wo Unsterblichkeit waltet, da waltet auch in seiner wahren Gestalt das Schicksal. Und hingetragen wird es dahin durch den Umstand, daß wir im gewöhnlichen Leben ihm so überliefert sind, daß wir es nicht erkennend durchdringen. Dadurch, daß wir es affektmäßig, gefühlsmäßig durchleben, dadurch wird das Schicksal selber in diejenige Region hineingetragen, wo es an dem unsterblichen Seelenteil arbeiten kann. Da erweist sich das Schicksal als der große Lehrer durch den gesamten Lebenslauf. [2]

Wie fremd fühlt der Mensch eigentlich sein Schicksal, wie wenig fühlt er es mit dem verwoben, was er sein Ich nennt. In wie unzähligen Fällen fühlt sich das Ich eben getroffen vom Schicksal. Warum? Weil das, was wir selbst aus uns heraus arbeiten an der Zimmerung unseres Schicksals, eben im Unterbewußten bleibt. Das, was wir erleben, das stellt sich hinein in die Welt der Sinneserfahrung und in die Welt der Vorstellungen. Es schlägt ja nur an unser Gefühlsleben an. Unser Gefühlsleben verhält sich dazu passiv. Aber aktiv aus diesem Gefühlsleben und aus diesem Leben der Willensimpulse kraftet dasjenige heraus, was wir nun auch mit dem Reich der Toten gemeinschaftlich haben. Was da aber herauskraftet und was wir selber tun ohne unser Bewußtsein, was wir verschlafen und verträumen, das bildet unser Schicksal, das sind wir selbst. Was wir an unserem Schicksal tun, verschlafen und verträumen wir. Was wir an unserem Schicksal erleben, das leben wir allerdings wachend durch, aber eben nur, weil es unterbewußt bleibt. Was bleibt da eigentlich unterbewußt? Dasjenige, was als Impulse herüberschlägt aus den früheren Erdenverkörperungen und aus dem Leben zwischen dem Tod und einer neuen Geburt auf eine rein geistige Weise aus dem Reiche, in dem die Toten auch sind, aus dem Reiche, das wir verträumen und verschlafen. Das sind zugleich Kräfte, die auch von uns selbst kommen; es sind die Kräfte, mit denen wir unser Schicksal zimmern. [3]

Wie der Traum so gewissermaßen die abgeschwächte sinnliche Erkenntnis darstellt, so stellt etwas anderes die verstärkte Wirkung des Geistig-Seelischen, die verstärkte Wirkung der Willensimpulse dar; und das ist dasjenige, was wir Schicksal nennen. Wir sehen in dem Schicksal die Zusammenhänge nicht, so wie wir im Traum nicht sehen, was da eigentlich als das Wirkliche webt und lebt. Wie im Traum immer materielle Vorgänge zugrunde liegen, die in den Äther hineinwogen, so brandet heran das im Willen verankerte Geistig-Seelische an die äußere Welt. Aber das Geistig-Seelische ist nicht so organisiert im gewöhnlichen Leben, daß der Geist selber in seiner Wirksamkeit geschaut werden kann in dem, was als die Aufeinanderfolge der sogenannten Schicksalserlebnisse für uns vorgeht. In dem Augenblick, wo wir diese Aufeinanderfolge ergreifen, lernen wir das Gewebe des Schicksals erkennen, lernen wir erkennen, daß ebenso, wie im gewöhnlichen Leben die Seele durch die Vorstellungen sich das Geistige verdeckt, sie im Schicksal sich das Geistige verdeckt durch den Affekt, durch Sympathie und Antipathie, mit denen sie die Ereignisse, die als Lebensereignisse an sie herankommen, aufnimmt. In dem Augenblick, wo man geisteswissenschaftlich durchblickt durch Sympathie und Antipathie, wo man den Lauf der Lebensereignisse objektiv in Gelassenheit wirklich ergreift, merkt man, wie alles das, was schicksalsmäßig in unserem Leben zwischen Geburt und Tod vorgeht, entweder die Nachwirkung ist früherer Erdenleben oder die Vorbereitung für spätere Erdenleben. [4]

Zitate:

[1]  GA 26, Seite 38   (Ausgabe 1976, 270 Seiten)
[2]  GA 66, Seite 107   (Ausgabe 1961, 269 Seiten)
[3]  GA 179, Seite 50f   (Ausgabe 1977, 164 Seiten)
[4]  GA 66, Seite 178f   (Ausgabe 1961, 269 Seiten)

Quellen:

GA 26:  Anthroposophische Leitsätze. Der Erkenntnisweg der Anthroposophie – Das Michael-Mysterium (1924/1925)
GA 66:  Geist und Stoff, Leben und Tod (1917)
GA 179:  Geschichtliche Notwendigkeit und Freiheit. Schicksalseinwirkungen aus der Welt der Toten (1917)