Physik

Es ist auch heute noch ein beliebtes Mittel der Physiker, jegliche Theorie und Hypothese zu verleugnen, obwohl die Art, wie sie die Phänomene behandeln, die Voraussetzung derselben notwendig macht. Man gibt vor, bloß mit Erfahrungen zu tun haben zu wollen, das aber, was man über die Erfahrung sagt, ist vollständig metaphysisch, ohne daß man das Wort haben will. [1]

Alle die Vorstellungen, die heute (1920) in der Physik herrschend sind, rühren im wesentlichen aus dem 17. Jahrhundert (aus der Accademia del Cimento in Florenz). [2] Von Freunden und Schülern Galileis und Torricellis, dem Erfinder des Barometers, wurde am 19. Juni 1657 in Florenz die Accademia del Cimento (Akademie des Versuches) gegründet, die hauptsächlich den Zweck hatte, durch Anstellung von Experimenten die großen Gedanken Galileis und Torricellis auszubauen und zu bekräftigen. [3]

Alle die Vorstellungen, die heute in Physikbüchern und überhaupt in der Behandlung der Physik herrschend sind, sind ja im Grunde genommen noch nicht alt. Sie rühren im wesentlichen aus dem 17. Jahrhundert her, und zwar haben sie ihren Grundcharakter bekommen durch alles dasjenige, was man im 17. Jahrhundert unter dem Neuaufleben eines gewissen wissenschaftlichen Geistes in Europa veranstaltet hat durch die Accademia del Cimento in der außerordentlich viele Experimente auf den verschiedensten Gebieten gemacht worden sind, namentlich aber auf dem Gebiete des Wärmewesens, auf dem Gebiete der Akustik, des Tonwesens und so weiter. Man konnte unmittelbar anschaulich machen, wie die physikalischen Erscheinungen verlaufen. Auf der anderen Seite aber wurde man entwöhnt, sich Begriffe zu machen über die Dinge. Man wurde entwöhnt, die Erscheinungen wirklich denkend zu verfolgen. Man nahm wieder die alten griechischen Vorstellungen, die jetzt vielfach wie aufgefangen wurden, auf, aber man verstand sie nicht mehr. Und so nahm man auch die Vorstellung von Feuer oder Wärme, ohne irgendwie das unter diesem Begriff verstehen zu können, was man im alten Griechenland darunter verstanden hat. Und es bildete sich jetzt jene tiefe Kluft zwischen dem Denken und dem, was für die Anschauung durch das Experiment gegeben werden kann. Diese Kluft tat sich immer mehr und mehr auf gerade seit dem 17. Jahrhundert. Die Experimentierkunst wurde dann besonders im 19. Jahrhundert vervollkommnet, aber klare, deutliche Begriffe gingen nicht parallel dieser Vervollkommnung der Experimentierkunst. Und heute stehen wir, indem uns solche klare, deutliche, anschaubare Begriffe fehlen, vielfach vor jenen Erscheinungen ratlos, die das gedankenlose Experimentieren im Lauf der Zeit hervorgebracht hat und die im weiteren sich nur fruchtbar der menschlichen Geistesentwickelung einverleiben können, wenn wiederum der Weg gefunden wird, nicht nur zu experimentieren und den Verlauf des Experiments äußerlich anzuschauen, sondern in den inneren Gang des Naturgeschehens wirklich ein-zutreten. [4]

Die Physik ist nicht ewig. Sie hat keine Gültigkeit mehr für ganz andere Arten von Wirklichkeiten. Denn natürlich ist es eine Wirklichkeit, wo das Gas unmittelbar innerlich leuchtend ist (in früheren Zuständen der Evolution), eine ganz andere Wirklichkeit als diejenige, wo das Gas und das Licht relativ selbständig gegeneinander sind. Wir kommen also dahin, auf die Zeit zurückzublicken, wo es eine andere Physik gab und auf eine Zukunft zu blicken, wo es eine andere Physik geben wird. Das muß aus der Physik selbst heraus gewonnen werden, damit man nicht das Paradoxe, ja nicht nur Paradoxe, sondern Unsinnige begeht, die physikalischen Erscheinungen unseres Erdengebietes zu studieren, über sie Hypothesen zu machen, und dann diese Hypothesen auf die ganze Welt anzuwenden (und zeitlich zu extrapolieren). Wir wenden unsere irdischen Hypothesen auf die ganze Welt an und vergessen, daß dasjenige, was wir an Physikalischem kennen, eben auf das Erdengebiet zeitlich begrenzt ist. Und daß es räumlich begrenzt ist (ersehen wir daraus, daß) in dem Augenblick, wo wir hinauskommen zu der Sphäre, wo die Schwerkraft aufhört und alles nach außen strömt, in dem Augenblick hört unser ganzes physikalisches Weltbild auf. Wir haben also zu sagen: Unsere Erde ist nicht etwa nur räumlich, sondern als physische Qualität räumlich begrenzt, und es ist ein Unsinn, sich zu denken, daß über die Nullsphäre hinausgehend irgendwo da draußen etwas sich finden müsse, worauf dieselben physikalischen Gesetze in einer bestimmten Vorzeit und nach einer bestimmten Zeit der Entwickelung als anwendbar zu denken. [5]

Es ist ein gewaltiger Unterschied zwischen allen anderen Vorstellungen unserer Intelligenz und den geometrischen, arithmetischen und Bewegungs-Vorstellungen. Die anderen Vorstellungen gewinnen wir an den Erfahrungen der Außenwelt; diese Vorstellungen, die geometrischen, die arithmetischen Vorstellungen, die steigen auf aus dem unbewußten Teile von uns, aus dem Willensteil, der sein äußeres Organ im Stoffwechsel hat. Und wenn Sie anwenden diese geometrischen Vorstellungen auf Lichterscheinungen oder Schall- oder Tonerscheinungen, dann verbinden Sie in Ihrem Erkenntnisprozeß dasjenige, was Ihnen von innen aufsteigt, mit demjenigen, was Sie äußerlich wahrnehmen; unbewußt bleibt Ihnen dabei der ganze Ursprung der aufgewendeten Geometrie. Sie bilden aus Theorien, indem Sie vereinigen, was aus Ihrem unbewußten Teil aufsteigt, mit demjenigen, was sich Ihnen als bewußtes Tagesleben darstellt. [6]

Aus demselben Gebiete im Menschen, das als Willensgebiet gleichwertig ist dem Wirkensgebiet der Kathoden-, Kanal-, Röntgenstrahlen, der Alpha-, Beta-, Gamma-Strahlen und so weiter, aus diesem selben Gebiet, das beim Menschen das Willensgebiet ist, hebt sich heraus dasjenige, was wir in unserer Mathematik, in unserer Geometrie, in unseren Bewegungs-Vorstellungen haben. Da kommen wir erst in verwandte Gebiete hinein. Nun ist aber das heutige menschliche Denken auf diesen Gebieten nicht so weit, bis hinein in diese Gebiete noch wirklich zu denken. [7]

Zitate:

[1]  GA 1d, Seite 306 Anm6   (Ausgabe 1921, 2640 Seiten)
[2]  GA 321, Seite 37   (Ausgabe 1982, 240 Seiten)
[3]  GA 1d, Seite 273 Anm6   (Ausgabe 1921, 2640 Seiten)
[4]  GA 321, Seite 37ff   (Ausgabe 1982, 240 Seiten)
[5]  GA 321, Seite 197f   (Ausgabe 1982, 240 Seiten)
[6]  GA 320, Seite 170f   (Ausgabe 1987, 204 Seiten)
[7]  GA 320, Seite 172   (Ausgabe 1987, 204 Seiten)

Quellen:

GA 1d:  J.W. GOETHE: Naturwissenschaftliche Schriften. Band IV (1897)
GA 320:  Geisteswissenschaftliche Impulse zur Entwickelung der Physik, I. Erster naturwissenschaftlicher Kurs: Licht, Farbe, Ton – Masse, Elektrizität, Magnetismus (1919/1920)
GA 321:  Geisteswissenschaftliche Impulse zur Entwickelung der Physik, II. Zweiter naturwissenschaftlicher Kurs: Die Wärme auf der Grenze positiver und negativer Materialität (1920)