Diogenes Laertius erzählt uns, wie einmal der alte griechische Weise Pythagoras, der von dem Beherrscher von Phlius, Leon, als ein sehr weiser Mann angesehen worden ist, von diesem gefragt wurde, wie er sich eigentlich in das Leben hineinstelle, wie er sich im Leben fühle. Da soll Pythagoras das Folgende gesagt haben: Mir kommt vor, das Leben ist wie eine Festversammlung. Da kommen dann Menschen hin, um sich als Kämpfer an den Spielen zu beteiligen; andere kommen hin als Händler um des Gewinnes willen; aber es gibt eine dritte Art von Leuten, die kommen nur, um sich die Sache anzuschauen. Sie kommen weder, um mit ihrer persönlichen Teilnahme an den Spielen mitzutun, noch um des Gewinnes willen, sondern um sich die Sache anzuschauen. So erscheint mir auch das Leben: die einen gehen ihrem Vergnügen nach, die anderen gehen ihrem Gewinn nach; dann gibt es aber solche wie ich, der sich einen Philosophen nennt als Forscher nach Wahrheit. Die sind da, um sich das Leben anzuschauen; sie kommen sich vor wie aus einer geistigen Heimat in die Erdenwelt versetzt, sehen sich das Leben an, um in diese geistige Heimat dann wieder zurückzukehren. [1]
Alle wirklichen Philosophen waren Begriffskünstler. Für sie wurden die menschlichen Ideen zum Kunstmateriale und die wissenschaftliche Methode zur künstlerischen Technik. Das abstrakte Denken gewinnt dadurch konkretes, individuelles Leben. Die Ideen werden Lebensmächte. [2]
Ein Komponist arbeitet auf Grund der Kompositionslehre. Diese ist eine Summe von Erkenntnissen, die eine notwendige Vorbedingung des Komponierens sind. Das Komponieren verwandelt die Gesetze der Musikwissenschaft in Leben, in reale Wirklichkeit. Wer nicht begreift, daß ein ähnliches Verhältnis auch zwischen Philosophie und Wissenschaft besteht, der taugt nicht zum Philosophen. Alle wirklichen Philosophen waren freie Begriffskünstler. Bei ihnen wurden die menschlichen Ideen zum Kunstmateriale und die wissenschaftliche Methode zur künstlerischen Technik. Dadurch wird das abstrakte wissenschaftliche Bewußtsein zum konkreten Leben erhoben. Unsere Ideen werden Lebensmächte. Wir haben nicht bloß ein Wissen von den Dingen, sondern wir haben das Wissen zum realen, sich selbst beherrschenden Organismus gemacht; unser wirkliches, tätiges Bewußtsein hat sich über ein bloßes passives Aufnehmen von Wahrheiten gestellt. [3]
[1] | GA 63, Seite 57 | (Ausgabe 1959, 439 Seiten) |
[2] | GA 4, Seite 270 | (Ausgabe 1973, 278 Seiten) |
[3] | GA 30, Seite 392 | (Ausgabe 1961, 629 Seiten) |
GA 4: | Die Philosophie der Freiheit. Grundzüge einer modernen Weltanschauung – Seelische Beobachtungsresultate nach naturwissenschaftlicher Methode (1894) |
GA 30: | Methodische Grundlagen der Anthroposophie. Gesammelte Aufsätze zur Philosophie, Naturwissenschaft, Ästhetik und Seelenkunde (1884-1901) |
GA 63: | Geisteswissenschaft als Lebensgut (1913/1914) |