Penelope

Dasjenige, was wir an Erlebnissen durchmachen, muß sich vereinigen mit unserer Seele; es muß von dieser verarbeitet werden; es muß zur Gerinnung gebracht werden, um in Fähigkeit umgebildet werden zu können. Diesen ganzen Prozeß vollzieht die Seele während des Schlafzustandes. Die Tageserlebnisse, die sich ausbreiten in der Zeit, die rinnen zusammen während des nächtlichen Schlafes und gießen sich um in dasjenige, was wir geronnene Erlebnisse, menschliche Fähigkeiten nennen. So zeigt sich uns, was wir des Abends mitnehmen aus den äußeren Erlebnissen, nämlich dasjenige, was dann umgewandelt wird und umgewoben zu unseren Fähigkeiten. So steigert sich unser Leben dadurch, daß die Erlebnisse des Tages umgegossen werden während der Nacht in Fähigkeiten, in Kräfte. Das heutige Zeitbewußtsein hat von diesen Dingen nicht viel Ahnung; aber es war nicht immer so, es gab Zeiten, in denen man aus einem alten Hellsehertum heraus über diese Dinge wohl Bescheid wußte. Da soll nur ein Beispiel angeführt werden, wo ein Dichter in einer höchst merkwürdigen Weise bildlich zeigt, wie er sich dieser Umwandlung bewußt war. Der alte Dichter Homer, der mit Recht auch ein Seher genannt wird, schildert uns in seiner «Odyssee», wie Penelope in der Abwesenheit ihres Gatten von einer Anzahl von Freiern bestürmt wird, und wie sie ihnen verspricht, sich erst dann zu entscheiden, wenn sie ein Gewebe fertig gebracht hätte. Sie löste aber in der Nacht immer wieder auf, was sie bei Tag gewoben hatte. Wenn ein Dichter darstellen will, wie eine Reihe von Erlebnissen, die wir am Tage haben, eine Reihe von Erlebnissen, wie es diejenigen der Penelope mit den Freiern waren, sich nicht zu irgendeiner Fähigkeit umbilden sollen und nicht zusammenrinnen sollen zu der Fähigkeit des Entschlusses, dann muß er darstellen, wie das, was die Tageserlebnisse weben, des Nachts wieder aufgedröselt werden muß, denn sonst würde es sich unweigerlich umgestalten zur Fähigkeit des Entscheidens. Solche Dinge können demjenigen, der nur vom heutigen Bewußtsein erfüllt ist, wie eine Haarspalterei erscheinen, und er kann glauben, daß man in die Dichter etwas hineinträgt; aber die Großen unter den Menschen waren wirklich nur diejenigen, die aus den großen Weltgeheimnissen heraus gearbeitet haben, und man hat, wenn man heute schön von Ursprünglichkeit und ähnlichem redet, keine Ahnung davon, aus welchen Tiefen die wirklich großen Kunstleistungen der Welt gekommen sind. [1]

Zitate:

[1]  GA 58, Seite 153f   (Ausgabe 1984, 352 Seiten)

Quellen:

GA 58:  Metamorphosen des Seelenlebens – Pfade der Seelenerlebnisse. Erster Teil (1909/1910)