Ohne initiiert zu sein, wußte der Kaiser Konstantin folgendes: Es gab eine Urweisheit der Menschheit. Sie war da, als die Menschen atavistisches Hellsehen hatten; sie war dann auf spätere Zeiten übertragen worden, war bewahrt worden von den Priestern, war allmählich korrumpiert worden, aber sie war da, diese Urweisheit. Auch wir Römer, sagte sich Konstantin, haben eigentlich in unserer sozialen Ordnung etwas, was mit den Institutionen dieser Urweisheit zusammenhängt, nur haben wir es begraben unter der auf das äußere sinnliche Reich gebauten sozialen Ordnung. – Das drückte sich aus in einem bedeutsamen Symbolum, das eine Imagination ist, aber nicht nur eine Imagination, sondern auch eine weltgeschichtliche Kulthandlung, wie diese Imaginationen sehr häufig in Kulthandlungen sich ausdrücken; das drückte sich darin aus, daß man sagte: Die Weisheit war früher nicht von den Menschen erdacht gewesen, sondern aus der geistigen Welt heraus geoffenbart. So haben sie auch noch unsere allerersten urväterlichen Priester gehabt, allerdings nicht in Rom, sondern drüben in Ilion, in Troja, wo unsere urväterlichen Priester waren. Und das drückte sich aus in der Sage von dem Palladium, dem so genannten Bildnis der Athene; das Palladium, das vom Himmel gefallen war in Troja, das in einem Heiligtum aufbewahrt wurde, das dann nach Rom gekommen war und unter einer Porphyr-Säule begraben war.
Und da beschloß denn Konstantin, auf seine Art etwas zu tun, um gewissermaßen das Prinzip des Imperium romanum zu retten. Er wußte, daß es geschehen müsse wiederum im Sinne gewisser Kulthandlungen, die vor die ganze Weltentwickelung hingestellt werden. Da beschloß er denn zuerst, Rom wiederum zurückzuverlegen nach Troja, das vergrabene Palladium ausgraben zu lassen und es wiederum nach Troja zurückbringen zu lassen. Die Sache vereitelte sich. Aus dem Plane, in Troja ein neues Rom aufzurichten, entstand der andere, Konstantinopel zu gründen und ihm zu übertragen die Kraft, das untergehende Rom für eine Zukunft zu retten. Daher ließ er auch die Porphyrsäule herüberverfrachten nach Konstantinopel, die nur später die Stürme (der Geschichte) zerstört haben. Und er ließ das Palladium ausgraben und unter diese Porphyrsäule legen.
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Die ganze Geschichte lebt metamorphosiert in der Sage weiter, die ungefähr das Folgende ausspricht: Das Palladium, was ja natürlich ein Symbolum ist für eine ganz bestimmte Urweisheitsstätte, es war einstmals in den geheimnisvollen Stätten der trojanischen initiierten Priester; die haben es verborgen gehabt. Dann kam es an die Sonne zum ersten Male, indem es auf verschiedenen Umwegen herübergebracht wurde von Troja nach Rom; es kam ein zweites Mal an die Sonne, als es von Rom durch Konstantin nach Konstantinopel gebracht worden ist. Und diejenigen, die die Sage aufnehmen, fügen hinzu: Es wird ein drittes Mal an die Sonne kommen, wenn es hinübergetragen wird von Konstantinopel in eine slawische Stadt. [2]
| [1] | GA 175, Seite 290f | (Ausgabe 1982, 416 Seiten) |
| [2] | GA 175, Seite 292 | (Ausgabe 1982, 416 Seiten) |
| GA 175: | Bausteine zu einer Erkenntnis des Mysteriums von Golgatha. Kosmische und menschliche Metamorphose (1917) |