Pädagogik anthroposophische
► Erziehungspraxis und Lebensalter

In dem Leben zwischen dem Tod und einer neuen Geburt hat man fast ausschließlich Interesse für das geistige Innenleben. Man bildet sich nach Erlebnissen der vorigen Erdenleben das Karma aus. Und das bildet man sich ja nach dem geistigen Innenleben aus. Dieses Interesse, das man da hat, ist von einer irdischen Eigenschaft, von der Wißbegierde, die in ihrer einseitigen Ausbildung Neugierde genannt werden kann, außerordentlich weit entfernt. Wißbegierde, Neugierde, Erpichtsein auf die Erkenntnis des äußeren Lebens hat man nicht vor der Geburt, vor dem Heruntersteigen auf die Erde; man kennt das gar nicht. Das hat daher das Kind auch noch sehr wenig. Dagegen hat das Kind etwas, was Leben in der Umgebung ist. Wenn man noch nicht heruntergestiegen ist auf die Erde, lebt man eigentlich ganz in der Außenwelt. Die ganze Welt ist das Innere. Es gibt keinen solchen Unterschied zwischen Äußerem und Innerem. Daher ist man auch nicht auf Äußeres neugierig. Alles ist Inneres. Aber da ist man nicht neugierig darauf. Das trägt man in sich, es ist eine Selbstverständlichkeit, in der man lebt. Im Grunde genommen lernt das Kind in den ersten sieben Lebensjahren Gehen, Sprechen und Denken noch ganz so, wie man sich verhalten hat, bevor man auf die Erde heruntergestiegen ist.

Und legen Sie es daraufhin an, daß das Kind auf irgendein Wort neugierig sein soll, so werden Sie sehen, daß Sie dem Kind die Lust, dieses Wort zu lernen, ganz austreiben. Wenn Sie auf die Wißbegierde, auf die Neugierde rechnen, treiben Sie dem Kinde gerade dasjenige aus, was es soll. Sie dürfen gar nicht auf die Neugierde rechnen, vielmehr auf etwas anderes: daß das Kind naturhaft in Ihnen selber aufgeht, daß Sie in dem Kinde leben. Alles, was das Kind genießt, lebt, muß so sein, als ob es sein eigenes Innere wäre. Sie müssen ganz auf das Kind den Eindruck machen, wie der Arm des Kindes auf das Kind einen Eindruck macht. Sie müssen nur die Fortsetzung seines eigenen Körpers sein. Dann müssen Sie achtgeben, wenn das Kind den Zahnwechsel passiert, allmählich in das Lebensalter eintritt zwischen dem 7. und 14. Jahre, wie nach und nach die Neugierde, die Wißbegierde herauskommt, und wie man da taktvoll und vorsichtig sein muß, achtgeben muß, wie sich die Neugierde nach und nach regt. [1]

Das Studium der Spielbetätigung im ausgedehntesten Maße wäre jedoch für die pädagogische Kunst schon ganz außerordentlich wichtig. Nun hängt diese Spielbetätigung mit Mannigfaltigem zusammen. Da sollte man sich doch erinnern, daß einmal von einem tonangebenden Geistesmenschen das Wort geprägt worden ist: Der Mensch ist nur so lange ganz Mensch, als er spielt, und der Mensch spielt nur, so lange er ganz Mensch ist. Dieses Wort hat Schiller in einem Brief geprägt, als er Goethes «Wilhelm Meister» in gewissen Partien gelesen hatte. Das freie Spiel mit den Seelenkräften, wie es sich entfaltet in der künstlerischen Gestaltung des «Wilhelm Meister», erschien Schiller als etwas, das er nur vergleichen konnte mit einem Erwachsenwordensein des kindlichen Spiels. Und im Grunde schrieb Schiller seine Briefe: «Über die ästhetische Erziehung des Menschen» ganz aus dieser Gesinnung heraus. Schiller schrieb ja aus der Gesinnung heraus, daß man als erwachsener Mensch mit der Betätigung, die man im gewöhnlichen Leben zu üben hat, eigentlich nie ganz Mensch ist. Entweder folgt man, meint Schiller, der sinnlichen Notdurft, demjenigen, was die Sinne fordern; dann steht man unter einem gewissen Zwang. Oder man folgt der logischen Notwendigkeit, die man von der Vernunft vorgeschrieben erhält, dann folgt man der Vernunftnotwendigkeit und ist wieder kein freier Mensch. Frei, meint Schiller, ist man eigentlich nur im künstlerischen Schaffen und im künstlerischen Sinnen. Das ist gewiß begreiflich bei einem Künstler wie Schiller, aber es ist einseitig, da es in bezug auf die Erfassung der Freiheit der Seele viel menschliches Erleben gibt, das ebenso nur innerlich verläuft, wie dasjenige, was Schiller unter Freiheit versteht. Aber die Lebensform, in der Schiller den Künstler befindlich denkt, ist tatsächlich so, daß der Mensch Geistiges erlebt, wie wenn es natürlich und notwendig wäre, und wiederum Sinnliches so, wie wenn es schon Geistiges wäre. Das ist ja gewiß beim künstlerischen Genießen und auch beim künstlerischen Schaffen der Fall. Man schafft im sinnlichen Material, aber man schafft nicht nach Nützlichkeit, nicht nach äußeren Zweckmäßigkeitsprinzipien. Schiller fand, daß der Mensch sich so etwas erringen kann im Leben, daß aber das Kind auf naturgemäße Weise dieses Spiel hat, in welchem es gewissermaßen in der Welt der Erwachsenen lebt, so, daß es seine Individualität befriedigt, daß es sich auslebt im Geschaffenen, ohne daß das Geschaffene zu irgend etwas dient. [2]

Der Erzieher muß sich einen künstlerischen Blick aneignen dafür, wie das Kind spielt. In Grunde genommen spielt jedes Kind auf seine eigene Art. Und das, wie ein Kind spielt, namentlich wie es im vierten, fünften, sechsten Jahr spielt, das geht dann in die Tiefen der Seele als eine Kraft hinein. Das Kind wird älter, man merkt zunächst nichts davon, wie die eine oder andere besondere Art zu spielen in den späteren Charaktereigenschaften des Kindes zutage tritt. Das Kind wird andere Kräfte, andere Seelenfähigkeiten entwickeln; was die besondere Wesenheit seines Spieles war, das schlüpft wie ins Verborgene der Seele hinein. Aber es tritt später wieder zutage, und zwar tritt es auf eigentümliche Weise zutage, so im fünfundzwanzigsten bis dreißigsten Lebensjahr des Menschen, in derjenigen Zeit des Lebens, in der der Mensch sich hineinzufinden hat in die äußere Welt, in die Welt der äußeren Erfahrung, der äußeren Schicksale. Der eine stellt sich geschickt, der andere stellt sich ungeschickt hinein. Der eine wird fertig mit der Welt, so daß er von seinem eigenen Handeln gegenüber der Welt eine gewisse Befriedigung hat; der andere kann nicht mit seinem Handeln da oder dort eingreifen, er hat ein schweres Schicksal. Man muß das Leben des ganzen Menschen kennen lernen, man muß sehen, wie in geheimnisvoller Weise der Spielsinn in diesem Lebenssinn in den zwanziger Jahren wiederum herauskommt. Dann wird man eine künstlerisch geartete Vorstellung darüber gewinnen, wie man den Spieltrieb zu lenken und zu leiten hat, um so für eine spätere Lebenszeit dem Menschen etwas mitgeben zu können. [3]

Das, was die (kindlichen) Spielleidenschaften sind, tritt in die Tiefe der Seele zurück und erst in einem viel späteren Lebensalter tritt es wieder zutage: in der zweiten Hälfte der zwanziger Jahre, wenn der Mensch sich in das praktische Leben hineinstellen soll. Der eine stellt sich mit großer Geschicklichkeit in die Aufgaben des Schicksals hinein, der andere wird ein weltenferner Träumer, und zwischen beiden sind die mannigfaltigsten Nuancen möglich. Die Art, wie sich der Mensch in diesen Jahren in das praktische Leben hineinstellen kann, ist durchaus zu erklären, wenn man weiß, wie der Mensch mit vier, fünf, sechs, sieben Jahren gespielt hat. Daher ist es von einer durchgreifenden Wichtigkeit, als Pädagoge, als Erzieher das kindliche Spiel zu leiten; zu beobachten, was aus dem Kind herauswill, zu lenken dasjenige, was nicht heraus soll, weil das Kind dadurch ungeschickt würde im späteren Leben. Denn man gibt dem Kind, wenn man das Spiel im zartesten Alter in der richtigen Weise leitet, etwas mit für die Lebenspraxis, wie sie sich erst in den zwanziger Jahren ausbildet. Das ganze Leben des Menschen hängt zusammen, und was wir in der Jugend in die kindliche Seele einpflanzen, das kommt erst viel später im Leben in den mannigfaltigsten Metamorphosen zutage. Nur eine totale Menschenkenntnis, wie sie anthropo-sophisch orientierte Geisteswissenschaft gibt, kann tatsächlich Zusammenhänge, die so weit auseinanderliegen wie die zwanziger Jahre und das kindliche Alter, wie das Hineinfinden in die Lebenspraxis und die Spieltriebe, durchschauen; nur solche Geisteswissenschaft kann so tief hineinschauen in das Leben. Das wird Ihnen eine Vorstellung davon geben, aus welchem Umfang einer Menschenerkenntnis diese anthroposophisch orientierte Geisteswissenschaft arbeiten will, um eine pädagogische Kunst auszubilden. [4]

Dasjenige, was Spieltrieb ist, die besondere Art, wie das Kind spielt, die verschwindet, versickert im Leben. Dann tritt sie wieder an die Oberfläche, sie ist aber jetzt etwas anderes, sie ist jetzt Lebensgeschicklichkeit, Anpassungsfähigkeit an das Leben. Das Leben hängt durchaus durch alle Lebensalter in sich zusammen. Dieses muß man wissen, damit man das Kind in der richtigen Weise unterrichtet und erzieht. [5]

Zitate:

[1]  GA 311, Seite 20f   (Ausgabe 1963, 148 Seiten)
[2]  GA 301, Seite 204f   (Ausgabe 1977, 268 Seiten)
[3]  GA 297a, Seite 20f   (Ausgabe 1998, 212 Seiten)
[4]  GA 297a, Seite 52f   (Ausgabe 1998, 212 Seiten)
[5]  GA 298, Seite 76   (Ausgabe 1980, 225 Seiten)

Quellen:

GA 297a:  Erziehung zum Leben. Selbsterziehung und pädagogische Praxis (1921-1924)
GA 298:  Rudolf Steiner in der Waldorfschule (1919-1924)
GA 301:  Die Erneuerung der pädagogisch-didaktischen Kunst durch Geisteswissenschaft (1920)
GA 311:  Die Kunst des Erziehens aus dem Erfassen der Menschenwesenheit (1924)