Ohren

Der Lemurier hatte, um sich in dem halb flüssigen, halb luftförmigen Element, das ihn umgab, bewegen zu können, ein Organ, das ihm als Apparat diente, um sich auf dem Wasser treiben zu lassen und schwimmen zu können. Als die Elemente sich trennten und der Mensch sich auf der festen Erde aufrecht hielt, bildete sich dieses Organ um in Lungenflügel, seine Kiemen in Ohren und so weiter. [1] Das Ohr als solches ist eines der ältesten Organe und der Kehlkopf eines der jüngsten. Das Ohr schwingt selber mit, es ist wie eine Art Klavier; in ihm sind eine Anzahl Fäserchen, von denen jedes auf einen gewissen Ton stimmt. Es verändert das, was draußen vorgeht, was zu ihm von außen hereinkommt, nicht oder doch nur sehr wenig. Alle anderen Sinnesorgane, zum Beispiel die Augen, verändern die Eindrücke der Umwelt. Und alle anderen Sinne müssen sich zu (dieser) Stufe des Ohres erst in der Zukunft entwickeln, denn wir haben im Ohr ein physisches Organ, das auf der höchsten Stufe der Entwickelung steht. Das Ohr steht im Zusammenhang mit einem Sinn, der noch älter ist. Das ist der Sinn für die Raumorientierung, das heißt für die Fähigkeit, die drei Richtungen des Raumes zu spüren. Dieser Sinn steht in inniger Verbindung mit dem Ohr. Wir finden tief im Inneren des Ohres merkwürdige Bögen, drei halbzirkelförmige Kanäle, die senkrecht aufeinander stehen. Dies sind Überbleibsel des Raumsinnes, der viel älter ist als der Gehörsinn. Früher nahm der Mensch den Raum so wahr, wie heute den Ton. Jetzt ist der Raumsinn ganz in ihn übergegangen und unbewußt geworden. Der Raumsinn nahm den Raum wahr, das Ohr nimmt den Ton wahr, das heißt das, was übergeht vom Raum in die Zeit. [2]

Das musikalische Erlebnis hat zunächst nicht jene Beziehung zum Ohr, die man gewöhnlich annimmt. Das musikalische Erlebnis betrifft nämlich den ganzen Menschen, und das Ohr hat eine ganz andere Funktion im musikalischen Erlebnis, als man gewöhnlich annimmt. Nichts ist falscher, als einfach zu sagen: Ich höre den Ton, oder ich höre die Melodie mit dem Ohr. – Das ist ganz falsch. Der Ton oder eine Melodie oder irgendeine Harmonie wird eigentlich mit dem ganzen Menschen erlebt. Und dieses Erlebnis kommt mit dem Ohr auf eine ganz eigentümliche Weise zum Bewußtsein. Die Töne, mit denen wir gewöhnlich rechnen, die haben zu ihrem Medium die Luft. Aber das, was wir im Ton erleben, hat nämlich gar nichts mehr zu tun mit der Luft. Und die Sache ist diese, daß das Ohr dasjenige Organ ist, welches erst vor einem Tonerlebnis das Luftartige vom Ton absondert, so daß wir den Ton, indem wir ihn erleben als solchen, eigentlich empfangen als Resonanz, als Reflexion. Das Ohr ist eigentlich dasjenige Organ, das uns den in der Luft lebenden Ton ins Innere unseres Menschen zurückwirft, aber so, daß das Luftelement abgesondert ist, und dann der Ton, indem wir ihn hören, im Ätherelemente lebt. Also das Ohr ist eigentlich dazu da, um, wenn ich mich so ausdrücken darf, das Tönen des Tones in der Luft zu überwinden und uns das reine Äthererlebnis des Tones ins Innere zurückzuwerfen. Es ist ein Reflexionsapparat für das Tonempfinden. [3]

In seinem jetzigen Zustand ist dieser Gehörapparat des Menschen eigentlich, man möchte sagen, wirklich nur ein Schatten dessen, was er war, denn es flossen einstmals durch diesen Apparat ein die gewaltigen Bewegungen des ganzen Universums. Und wie wir heute nur irdische Musik durch das Ohr hören, so floß in den Menschen herein in alten Zeiten Weltenmusik, Sphärenmusik. Und wie wir heute die Worte in die Töne kleiden, so kleidete sich einstmals in die Sphärenmusik das göttliche Weltenwort, dasjenige, wovon das Johannes-Evangelium als dem göttlichen Weltenworte, dem Logos, kündete. Und wie heute der Mensch durch sein Wort und durch seinen Gesang, durch seinen Ton die Luft in Formen zwingt, in Formen bringt, so brachten die göttlichen Worte und die göttliche Musik Formen hervor. Und die kostbarste dieser Formen ist der Mensch selber. Der Mensch selber in seinem Urzustande wurde erzeugt dadurch, daß er aus dem göttlichen Worte ausgesprochen wurde. Da war allerdings das Gehörorgan ein viel, viel komplizierteres noch. Jetzt ist es zusammengeschrumpft, denn das, was Sie heute als äußere Gehörorgane haben, was nur bis zu einer gewissen Tiefe in das Gehirn eindringt, das breitete sich von außen nach innen aus über die ganze menschliche Wesenheit. Und überall im Inneren der menschlichen Wesenheit breiteten sich aus die Wellengänge, die den Menschen aus dem Gotteswort heraus in die Welt hineinsprachen. So ist der Mensch, als er noch spirituell erzeugt wurde, erzeugt worden durch das Gehörorgan, und so wird in der Zukunft der Mensch, wenn er wieder aufgestiegen sein wird, ein ganz rudimentäres, ein ganz zusammengeschrumpftes Ohr haben. Das Ohr ist in einer absteigenden Bewegung; dafür wird zu höherem Glanze und höherer Vollkommenheit sich entwickelt haben das, was heute erst im Samenzustande ist, der Kehlkopf. [4]

Zitate:

[1]  GA 94, Seite 87   (Ausgabe 1979, 312 Seiten)
[2]  GA 283, Seite 35f   (Ausgabe 1975, 186 Seiten)
[3]  GA 283, Seite 121f   (Ausgabe 1975, 186 Seiten)
[4]  GA 134, Seite 103f   (Ausgabe 1979, 126 Seiten)

Quellen:

GA 94:  Kosmogonie. Populärer Okkultismus. Das Johannes-Evangelium. Die Theosophie an Hand des Johannes-Evangeliums (1906)
GA 134:  Die Welt der Sinne und die Welt des Geistes (1911/1912)
GA 283:  Das Wesen des Musikalischen und das Tonerlebnis im Menschen (1906/1920)