Mysterien des Sohnes

Das, was Christus gesagt hat, ist nicht das eigentlich Neue. Das Neue an der Erscheinung und Lehre des Christus Jesus ist, daß in dem Christus Jesus die Kraft war, all das zum Leben zu bringen, was vorher nur Lehre war. Durch das Christentum ist der Menschheit die Kraft entstanden, daß bei größtmöglicher Individualisierung in der freiwilligen Anerkennung der Autorität des Christus Jesus alles sich einigen, und daß durch den Glauben an ihn, sein Erscheinen, seine Göttlichkeit, die Menschen sich zu einem Bruderbunde zusammenschließen können. So stehen zwischen den Mysterien des Geistes und denjenigen des Vaters die Mysterien des Sohnes, deren Pflanzstätte die Schule des heiligen Paulus war, zu deren Leitung er den Dionysisus Areopagita bestimmt hatte. Unter ihm hatte diese Schule ihre Blütezeit, denn Dionysius hat diese Mysterien in einer ganz besonderen Weise gelehrt, während Paulus die Lehre exoterisch ausbreitete. In den Mysterien des Sohnes trat bei besonderen Anlässen der Christus selbst in Person als Lehrer auf: also auch (wie bei den Mysterien des Geistes) ein Lehrer, der nicht Mensch, sondern Gott war. Erst die, welche Lehrer werden in den Mysterien des Vaters, werden Menschen sein. [1]

Wie derjenige, der in die Mysterien des Geistes eingeweiht wurde, seine eigenen Inkarnationen sieht und an ihrer Spitze sich selbst, das, was nun das Vollkommenste ist, so sieht derjenige, der in die Zukunft blickt, die Gestaltungen, welche die Menschheit durchmachen muß. Wer die Mysterien des Sohnes durchlebt, sieht in die Zukunft hinein bis zum Ende der Erdentwickelung, wo der Erdenzustand übergeht in einen neuen Sternenzustand. Der Christus Jesus konnte daher vom ersten Zustand damals (beim Abendmahl) sagen: Ihr, die ihr um mich sitzet, stellt dar verschiedene Grade der Vollkommenheit, und wenn ich in die Zukunft blicke, so seid ihr, wie ihr hier sitzet, die zwölf Stationen. Die müssen aber überwunden werden. Ich muß sie durch mich hindurch zum Vater hinüberleiten. Wie durch mich hindurch muß ich euch zum Vater führen, damit die Erde zu einem höheren Vollkommenheitsgrade aufsteigen kann. – Alles, was an Sinnlichkeit vorhanden ist, alles, was an Triebe und Leidenschaft und Affekte der Menschen gebunden ist, muß überwunden werden. Das zeigt sich symbolisch an dem, was an den Zwölfen geschieht. Das Zeitalter das folgt (also unseres), ist vertreten durch Judas Iskariot. Mit dem Repräsentanten der größten Sittlichkeit ist verknüpft der Repräsentant der niederen Sinnlichkeit. Judas ist es, der eigentlich in unmittelbarer Folge das Christentum verrät. Der Verrat des Judas bedeutet das Überhandnehmen der niederen Triebe. Aber alles Sinnliche muß sich vergeistigen. [2] Das Zeitalter, in dem der Egoismus herrscht, ist repräsentiert durch Judas Iskariot. Wer unbefangen die Weltgeschehnisse betrachtet, der sieht, wie die Sexualität im Menschen imstande ist, ihn als Geist zu verraten, ihn zu töten. Es wird aber der Mensch, so wie er heute sich sein Höheres, das Wort erzeugt, durch das Wort einst schöpferisch wirken dann, wenn das Herz sein Geistorgan sein wird. Die Umwandlung vollzieht sich so, daß die schaffende Kraft heraufdrängt vom Schoße nach dem Herzen. Nun bitte ich Sie, dies anzuwenden auf das Evangelium und eine Stelle zu beachten, welche in wunderbarer Weise, mit einer grandiosen Symbolik das ausdrückt, was ich gesagt habe. Bei dem, welcher der Ausdruck der höchsten Gestalt und Jesus am nächsten ist, muß das zum Ausdruck kommen. Und nun lesen Sie: «Einer von den Jüngern, der, den Jesus liebhatte, lag zu Tische im Schoße Jesu. Dem winkte Simon Petrus, daß er forschen sollte, wer es wäre. Da legte sich dieser an die Brust Jesu und sprach zu ihm: Herr, wer ist es?» Das ist eine Stelle, die ausdrückt, wie die niedere Produktionskraft des Menschen heraufrückt in die Brust, dargestellt durch den intimsten Schüler des Christus Jesus. Mit einer Zartheit, die nicht grandioser gedacht werden kann, wird das Mysterium des Sohnes, das Mysterium Jesu angedeutet. [3]

Zitate:

[1]  GA 97, Seite 131   (Ausgabe 1981, 340 Seiten)
[2]  GA 96, Seite 292f   (Ausgabe 1974, 350 Seiten)
[3]  GA 96, Seite 293f   (Ausgabe 1974, 350 Seiten)

Quellen:

GA 96:  Ursprungsimpulse der Geisteswissenschaft. Christliche Esoterik im Lichte neuer Geist-Erkenntnis (1906/1907)
GA 97:  Das christliche Mysterium (1906/1907)