Musik

Die Musik kann an nichts erinnern, was im äußeren Leben ist. Da muß alles entzaubert werden durch die Musik. Bei den übrigen Künsten muß alles abgerechnet werden, was zu den Sinnen gehört, aber die Musik braucht das nicht. [1]

In der Malerei hat es eigentlich gar keinen Sinn, davon zu sprechen, irgend etwas ist drinnen oder draußen, oder die Seele ist innen und außen. Die Seele ist immerfort im Geistigen, wenn sie in der Farbe lebt. Dagegen kommen wir völlig in dasjenige hinein, was die Seele als Geistiges, als Geistig-Seelisches erlebt, wenn wir ins Musikalische kommen. Da müssen wir aus dem Raum vollständig heraus. Das Musikalische ist linienhaft, eindimensional. Es wird auch eindimensional in der Zeitenlinie erlebt. Aber es wird so erlebt, daß der Mensch dabei zugleich die Welt als seine Welt erlebt. Die Seele will dasjenige erleben im Musikalischen, was in ihr jetzt auf Erden seelisch-geistig lebt und vibriert. Studiert man die Geheimnisse der Musik, so kommt man darauf, was eigentlich die Griechen, die sich auf solche Dinge wunderbar verstanden, mit der Leier des Apollo meinten. Dasjenige, was musikalisch erlebt wird, ist die verborgene, aber dem Menschen gerade eigene Anpassung an die inneren harmonisch-melodischen Verhältnisse des Weltendaseins, aus denen er herausgestaltet ist. Der Mensch, insofern er ein Nervenmensch ist, ist innerlich aus Musik aufgebaut, und er empfindet die Musik künstlerisch, insofern irgend etwas, was musikalisch auftritt, mit dem Geheimnis seines eigenen musikalischen Aufbaues zusammenstimmt. [2]

Das Musikalische, das uns entgegentritt als ein Ton, kommt aus dem Devachan. Indem der Mensch im Schlafe entrückt ist in die geistige Welt, lebt er in Tönen. Diese Töne vergißt er im normalen Zustande. Der Musiker erinnert sich, zwar nicht bewußt, derselben. Es sind die Töne des devachanischen Webens und Wogens, die sich ausdrücken in der Musik, im physischen Ton. [3] Ed.1970

Wenn wir heraufdringen durch die Seelenwelt in die höheren geistigen Welten, so erklingt uns etwas von einer höheren Musik. Nicht die, welche wir auf dem physischen Plan wahrnehmen; denn nicht wie eine Allegorie ist das aufzufassen, sondern als Wirklichkeit: Die Bewegung der Sterne im Weltenraum, das Wachsen jeder Blume, das Fühlen der Menschen und Tiere erscheint wie ein klingendes Wort! Der Okkultist sagt daher: Der Mensch erfährt erst die Weltengeheimnisse, wenn das mystische Wort, das in den Dingen vorhanden ist, zu ihm spricht. Manas nennen wir das Prinzip, das die Zeit überdauert und in das Ewige hineinreicht. Dieses Manas findet seinen physischen Ausdruck in den Tönen der Musik, die von der Außenwelt an uns herandringen. [4] Man lernte das Weben und Walten des göttlichen Wesens, das die Welt durchwebt und durchwellt, kennen in der 7. Stufe (der mittelalterlichen Stufenfolge der sieben freien Künste), die man mit Musik bezeichnete, was aber nicht die heutige Musik ist, sondern ein höheres lebendiges Ausbilden desjenigen, was mehr gedanklich ausgebildet war in der Astronomie. [5]

Der Mensch vermag lange, lange bevor er sich bewußt hineinfindet in all das, was ich Ihnen geschildert habe als die Etappen des Initiationspfades (siehe: Einweihung; Schulung), auszusprechen mit seinen Mitteln dieses Erleben, auszusprechen in Bildern – und das geschieht durch die Musik. Letzten Endes, im wesentlichen, ist wahre Musik in Tönen verlaufendes Dasein, in Tönen verlaufendes Daseinsgeschehen, welches ein äußeres Bild desjenigen ist, was bewußt die Seele durchlebt im Initiationsleben. Der Mensch kann, wenn er im alltäglichen Dasein stehenbleibt, nicht ohne weiteres das vollziehen, was wir nennen können: das Ich hinuntertauchen in den astralischen Leib. Dies, was man da unternimmt, indem man mit dem Ich untertaucht in diese astralische Welt in der richtigen Weise, so daß das Untertauchen ist ein Eintauchen in die göttliche Welt, ist eben der Gang durch die Initiation. Aber ein Bild davon ist uns in dem Geschehen, das durch musikalische Schöpfungen an uns herantritt, gegeben. Der Mensch entäußert sich, indem er der musikalischen Schöpfung schaffend oder genießend sich hingibt, seines Ich. Er drängt dieses Ich zurück, aber er übergibt es zugleich all den göttlich-geistigen Mächten, die an seinem astralischen Leib arbeiten werden, wenn er aufsteigen wird zum Jupiterdasein. [6]

Alles Plastisch-Bildnerische arbeitet auf die Individualisierung der Menschen hin, alles Musikalisch-Dichterische dagegen auf die Förderung des sozialen Lebens. Die Menschen kommen in einer Einheit zusammen durch das Musikalisch-Dichterische. [7] Am internationalsten (von allen Künsten) ist (daher nun) die Musik. [8] Alles, was aus dem jüdischen Element herausgewachsen ist, hat die besondere Veranlagung zu dem eigentlich musikalischen Element. [9]

Innerhalb des Musikalischen kann man unterscheiden den einzelnen Ton, die Melodie und die Harmonie. Harmonie beruht auf der Wahrnehmung gleichzeitiger Töne, Melodie auf dem Zusammenfassen aufeinanderfolgender Töne. [10] Der Inhalt des Musikalischen ist im wesentlichen das melodiöse Element der Musik. Woher stammt das melodiöse Element? Das melodiöse Element ist gut zu vergleichen dem plastischen Element. Nicht wahr, das plastische Element ist räumlich angeordnet, das melodiöse Element ist zeitlich angeordnet. Aber wer ein reges Gefühl für diese zeitliche Orientierung hat, der wird darauf kommen, daß im melodiösen Element eine Art zeitlicher Plastik enthalten ist. [11] Die Menschen wissen so wenig von dem eigentlichen Ursprung der musikalischen Themen, weil sie das, was in den musikalischen Themen sich auslebt, in der Zeit vom Einschlafen bis zum Aufwachen erleben. Das ist für den Menschen heute als ein noch unbewußtes Element da, das sich nur verrät dann, wenn es sich im Traum zu Bildern formt. [12] Warum wird denn eigentlich in der modernen Zeit ein so starker Drang entwickelt, vom rein Musikalischen abzugehen? Weil der moderne Mensch allmählich in eine Seelenverfassung hineingekommen ist, in der er nicht mehr träumen kann, in der er auch nicht mehr meditieren kann, in der er nichts hat, was von innen ihn in Bewegung bringt, sondern er will sich immer von außen in Bewegung versetzen lassen. Der Film ist der klarste Beweis dafür, daß derjenige, der ihn liebt, unmusikalisch ist, weil der Film darauf ausgeht, nur dasjenige in der Seele gelten zu lassen, was nicht aus dem Inneren dieser Seele heraussteigt, sondern was von außen veranlaßt ist. [13]

Unsere Zeit hat in wirklich ausgedehntem Maße das eigentliche Musikalische hineingetrieben in das Geräuschvolle. Wir sind schon dazu übergegangen die Musik zu benützen, um etwas darzustellen. [14]

Zitate:

[1]  Bei 26, Seite 34   (Ausgabe 0, 0 Seiten)
[2]  GA 276, Seite 51f   (Ausgabe 1961, 160 Seiten)
[3]  GA 108, Seite 115   (Ausgabe 1986, 336 Seiten)
[4]  GA 53, Seite 172f   (Ausgabe 1981, 508 Seiten)
[5]  GA 82, Seite 46   (Ausgabe 1994, 264 Seiten)
[6]  GA 275, Seite 63   (Ausgabe 1980, 182 Seiten)
[7]  GA 294, Seite 46   (Ausgabe 1966, 202 Seiten)
[8]  GA 332a, Seite 217   (Ausgabe 1977, 238 Seiten)
[9]  GA 294, Seite 38   (Ausgabe 1966, 202 Seiten)
[10]  GA 115, Seite 49   (Ausgabe 1965, 318 Seiten)
[11]  GA 301, Seite 172   (Ausgabe 1977, 268 Seiten)
[12]  GA 301, Seite 174f   (Ausgabe 1977, 268 Seiten)
[13]  GA 278, Seite 89f   (Ausgabe 1984, 150 Seiten)
[14]  GA 278, Seite 48   (Ausgabe 1984, 150 Seiten)

Quellen:

Bei 26:  Beiträge zur Rudolf Steiner Gesamtausgabe. Heft 26: Wortlaute von Rudolf Steiner über Musik (1969)
GA 53:  Ursprung und Ziel des Menschen. Grundbegriffe der Geisteswissenschaft (1904/1905)
GA 82:  Damit der Mensch ganz Mensch werde. Die Bedeutung der Anthroposophie im Geistesleben der Gegenwart (1922)
GA 108:  Die Beantwortung von Welt- und Lebensfragen durch Anthroposophie (1908/1909)
GA 115:  Anthroposophie – Psychosophie – Pneumatosophie (1909/1911)
GA 275:  Kunst im Lichte der Mysterienweisheit (1914/1915)
GA 276:  Das Künstlerische in seiner Weltmission. Der Genius der Sprache. Die Welt des sich offenbarenden strahlenden Scheins – Anthroposophie und Kunst. Anthroposophie und Dichtung (1923)
GA 278:  Eurythmie als sichtbarer Gesang. (Ton-Eurythmie-Kurs) (1924)
GA 294:  Erziehungskunst. Methodisch-Didaktisches (1919)
GA 301:  Die Erneuerung der pädagogisch-didaktischen Kunst durch Geisteswissenschaft (1920)
GA 332a:  Soziale Zukunft (1919)