Moralität

Die irdische menschliche Moralität beruht, wenn sie sich nicht in bloßen Phrasen oder schönen Redereien bewegt, oder in Vorsätzen, die nicht ausgeführt werden oder dergleichen, auf dem Interesse, das der eine Mensch am andern nimmt, auf der Möglichkeit, in den anderen Menschen hinüberzuschauen. Derjenige Mensch, der Menschenverständnis hat, wird aus diesem Menschenverständnis eben die sozialmoralischen Antriebe empfangen. So daß man auch sagen kann, alles moralische Leben innerhalb des Erdendaseins hat der Mensch errungen im vorirdischen Dasein, so errungen, daß ihm von dem Zusammenleben mit den Göttern der Drang bleibt, ein solches Zusammenleben wenigstens in der Seele auch auf Erden auszugestalten, so daß der eine Mensch mit dem andern die Erdenaufgaben, die Erdenmission vollbringt, das führt allein in Wirklichkeit zu dem moralischen Leben auf der Erde. Wir sehen also, daß Liebe und die Wirkung der Liebe, die Moralität, durchaus eine Folge, eine Konsequenz desjenigen sind, was der Mensch im vorirdischen Dasein geistig durchgemacht hat. [1] Von dem Hinübertragen des eigenen Seelischen in das Seelische des andern hängt im Grunde genommen alle wahre Moralität ab. Das Gute lebt durchaus im astralischen Leib des Menschen. Und der Astralleib kann nicht gesund sein, kann nicht richtig in der Welt drinnenstehen, wenn der Mensch nicht in der Lage ist, ihn mit demjenigen zu durchdringen, was von der Güte herrührt. [2]

Wenn jemand unter einem starken moralischen Impuls steht, so ist eine unmittelbare Wirkung des moralischen Impulses auf das Blut vorhanden. Die geht voran selbst der Wahrnehmung des moralischen Vorganges, des moralischen Prozesses durch den Kopf. Daher hat Aristoteles, der diese Dinge immer noch genauer gesehen hat, nicht nur die physischen, sondern auch die moralischen Dinge, er hat ein wunderbares Wort gesagt: daß die Moralität auf einer Fertigkeit beruht, das heißt entbunden ist in bezug auf ihre eigene Tätigkeit, entbunden ist dem intellektuellen Urteil. [3]

Die Moralität ist ein ursprünglich göttliches Geschenk und liegt ursprünglich in der menschlichen Natur, so wie die geistige Kraft, als der Mensch noch nicht so weit heruntergestiegen war, überhaupt in der menschlichen Natur lag. Im Grunde genommen ist ein großer Teil des Unmoralischen durch den Verrat höherer Geheimnisse in der alten atlantischen Zeit in die Menschheit hineingekommen. So ist die Moral etwas, von dem man nicht so sprechen kann, als ob es in der Menschheit erst ausgebildet worden sei, sondern etwas, was auf dem Grunde der menschlichen Seele liegt, was nur durch die spätere Kultur verdeckt, hinuntergedrängt worden ist. Wenn wir die Sache im richtigen Lichte besehen, so können wir nicht einmal sagen, daß die Unmoralität in die Welt gekommen ist durch Dummheit. Sie ist vielmehr in die Welt gekommen dadurch, daß die Menschen, als sie noch unreif waren, die Geheimnisse der Weisheit verraten erhielten. Gerade dadurch sind die Menschen versucht worden, sind unterlegen und heruntergekommen. Es gibt keine Menschenseele – mit Ausnahme von Schwarzmagiern – in welcher nicht die Grundlage des moralisch Guten wäre. Wenn ein Mensch schlecht ist, so ist er es dadurch, daß dasjenige, was als geistige Verirrung im Laufe der Zeit eingetreten ist, sich über das moralisch Gute darüberlagert. Nicht die menschliche Natur ist schlecht. Sie war ursprünglich gut. [4]

Der Schlafzustand trägt das Geistig-Seelische des Menschen in das Kosmische hinüber. Er ist da mit der Betätigung seines Astralleibes und seines Ich in den göttlich-geistigen Kosmos eingetaucht. Er ist nicht nur außerhalb der physischen, sondern auch außerhalb der Sternenwelt. Aber er ist innerhalb der göttlich-geistigen Wesen, durch die sein Dasein den Ursprung hat. In dem gegenwärtigen Zeitpunkt der kosmischen Entwickelung wirken diese göttlich-geistigen Wesen so, daß sie den moralischen Weltinhalt während des Schlafzustandes in Astralleib und Ich einprägen. Alles Weltengeschehen im schlafenden Menschen ist reales moralisches Geschehen, kein Geschehen, das der Naturwirkung auch nur ähnlich genannt werden könnte. Dieses Geschehen in seiner Nachwirkung trägt der Mensch aus dem schlafenden in den Wachzustand herüber. Diese Nachwirkung bleibt im schlafenden Zustande. Denn der Mensch wacht nur in dem Leben, das dem Denkgebiete zugeneigt ist. Was in seiner Willenssphäre eigentlich vorgeht, das ist auch während des Wachens in solche Dumpfheit gehüllt wie während des Schlafens das ganze Seelenleben. Aber in diesem schlafenden Willensleben webt das Göttlich-Geistige im wachenden Zustande weiter. Der Mensch ist moralisch so gut oder so schlecht, als er es sein kann, je nach der Nähe, in die er schlafend zu den göttlich-geistigen Wesen kommen kann. Und er kommt näher oder bleibt ferner, je nachdem seine früheren Erdenleben in moralischer Richtung waren. Aus den Tiefen des wachenden Seelenwesens tönt herauf, was sich während des Schlafens in Gemeinschaft mit der göttlich-geistigen Welt in dieses Seelenwesen hat einpflanzen können. Was heraufklingt ist die Stimme des Gewissens. [5]

Zitate:

[1]  GA 219, Seite 62f   (Ausgabe 1966, 212 Seiten)
[2]  GA 220, Seite 107f   (Ausgabe 1966, 214 Seiten)
[3]  GA 170, Seite 70   (Ausgabe 1964, 276 Seiten)
[4]  GA 155, Seite 101f   (Ausgabe 1982, 252 Seiten)
[5]  GA 26, Seite 238f   (Ausgabe 1976, 270 Seiten)

Quellen:

GA 26:  Anthroposophische Leitsätze. Der Erkenntnisweg der Anthroposophie – Das Michael-Mysterium (1924/1925)
GA 155:  Christus und die menschliche Seele. Über den Sinn des Lebens. Theosophische Moral. Anthroposophie und Christentum (1912/1914)
GA 170:  Das Rätsel des Menschen. Die geistigen Hintergründe der menschlichen Geschichte (1916)
GA 219:  Das Verhältnis der Sternenwelt zum Menschen und des Menschen zur Sternenwelt. Die geistige Kommunion der Menschheit (1922)
GA 220:  Lebendiges Naturerkennen. Intellektueller Sündenfall und spirituelle Sündenerhebung (1923)