Metamorphosen der Knochenformen

Goethe hat an einem Schöpsenschädel (Hammel) in Venedig zuerst beobachtet, wie alle Kopfknochen umgebildete Rückenwirbelknochen sind. Das heißt, wenn man sich irgendwelche Organe (besser: Teile des Knochens) aufgeplustert und andere zurückgegangen denkt, so bekommt man aus dieser Wirbelform den schalgeformten Kopfknochen. Auf Goethe hat das einen großen Eindruck gemacht, denn er hat daraus den Schluß ziehen müssen – das für ihn sehr bedeutungsvoll war –, daß der Schädel eine umgebildete, eine höhergebildete Wirbelsäule ist. Man kann nun verhältnismäßig leicht einsehen, daß die Schädelknochen durch Umwandelung, durch Metamorphose aus den Wirbelknochen des Rückgrates hervorgehen. Aber nun wird es sehr schwierig, auch die Gliedmaßenknochen, schon die Gliedmaßenknochen des Kopfes, obere und untere Kinnlade – Goethe hat es versucht, aber auf äußerliche Weise noch – als Umformung, als Metamorphose der Wirbelknochen beziehungsweise der Kopfknochen aufzufassen. Das beruht darauf, daß ja allerdings ein röhriger Knochen, den sie irgendwo haben, auch eine Metamorphose, eine Umwandlung des Kopfknochens ist, aber auf ganz besondere Art. Sie müssen mit den Röhrenknochen der Arme oder der Beine dieselbe Prozedur vornehmen, die sie vornehmen würden, wenn Sie beim Ausziehen eines Strumpfes oder eines Handschuhes das Innere zuerst nach außen wenden würden, also wenn Sie es umwenden würden. Man muß das Innere nach außen und das Äußere nach innen kehren, dann kommt die Form des Kopfknochens heraus, so daß die menschlichen Gliedmaßen nicht nur umgewandelte Kopfknochen sind, sondern außerdem noch umgewendete Kopfknochen. Das rührt davon her, daß der Kopf seinen Mittelpunkt irgendwo im Inneren hat; er hat ihn konzentrisch. Die Brust (mit den Wirbeln) hat den Mittelpunkt sehr weit weg. Und wo hat denn das Gliedmaßensystem den Mittelpunkt? Jetzt kommen wir auf die zweite Schwierigkeit. Das Gliedmaßensystem hat den Mittelpunkt im ganzen Umkreis. Der Mittelpunkt des Gliedmaßensystems ist überhaupt (selbst) ein Kugel(inneres), also das Gegenteil von einem Punkt eine Kugelfläche. Überall ist der Mittelpunkt eigentlich; daher können Sie sich überallhin drehen und von überallher strahlen die Radien ein. Sie vereinigen sich mit Ihnen. [1]

Gliedmaßensystem - Mittelpunkt

Die Anatomie der Tiere war zu Goethes Zeit noch nicht so weit vorgeschritten, daß er ein Lebewesen hätte anführen können, welches wirklich an Stelle von entwickelten Schädelknochen Wirbel hat, und das also im sinnlichen Bilde das zeigt, was bei den vollkommenen Tieren nur der Idee nach vorhanden ist. Durch die Untersuchungen Carl Gegenbauers, die im Jahre 1872 veröffentlicht worden sind, ist es gelungen, eine solche Tierform anzugeben. Die Urfische oder Selachier haben Schädelknochen und ein Gehirn, die sich deutlich als Endglieder der Wirbelsäule und des Rückenmarkes erweisen. [2]

Exkurs (von Urs Schwendener)

Um uns diesen Umstülpungsvorgang von einem Schädelknochen zu einem Röhrenknochen der Gliedmaßen vorstellbar zu machen, müssen wir ein Gedankenexperiment durchführen. Zuerst einmal den Vorgang rein formal: stellen wir uns ein zylinderförmiges Kissen mit Überzug vor (Fig. 1).

Umstülpung 1

Wenn wir es umstülpen wollen, so öffnen wir den Verschluß (Fig. 2) und ziehen die innere hintere Seite durch den Verschluß (Fig. 3) und haben nun die ganze Hülle umgedreht; das frühere Innere ist jetzt Äußeres geworden (Fig. 4). Denken wir uns jetzt einen Röhrenknochen (Fig. 5) im Längsschnitt. Eine Seite beginnt nun nach innen zu wachsen wie eine Geschwulst (Fig. 6).

Umstülpung 2

Durch das Wachstum wird mehr Platz benötigt, der gefunden wird, wenn sich das Ganze in Richtung der Pfeile bewegt (Fig. 7) – es ist dies ein gleicher Vorgang, wie wenn man aus einem flachen Stück Blech mit dem Treibhammer einen Hohlkörper formt (Fig. 8). Wenn nun das Wachstum nach und nach den ganzen Knochen erfaßt, so erhalten wir am Schluß eine Form wie (Fig. 9) ein Stück eines Schädelknochens siehe die linke Zeichnung des vorigen Artikels – wobei das frühere Innere jetzt Äußeres ist und umgekehrt. Für die Vorstellung der Metamorphose des Schädelknochens in die Röhrenknochen der Gliedmaßen muß man sich den ganzen Vorgang in der umgekehrten Reihenfolge vorstellen; das frühere Wachstum als Schrumpfung.

Umstülpung 3

Zitate:

[1]  GA 293, Seite 149   (Ausgabe 1980, 216 Seiten)
[2]  GA 6, Seite 133   (Ausgabe 1990, 246 Seiten)

Quellen:

GA 6:  Goethes Weltanschauung (1897)
GA 293:  Allgemeine Menschenkunde als Grundlage der Pädagogik (1919)